Von Monika Heil

April

 

Fasziniert ging Annett durch die Räume der Galerie im Belvedere. Endlich fand sie das Bild der Bilder. Unübersehbar 180 x 180 cm groß. Ihr gingen die Gedanken durch den Kopf, die sie während der Erklärungen der Dozentin im Kunstseminar so beschäftigt hatten.

„Klimt war der bedeutendste Vertreter des Jugendstils“, hörte sie eine warme, melodische Stimme und schaute unauffällig auf das junge Paar, das neben ihr stand. Sie wirkte nicht so sehr interessiert, während er dozierend und seine Worte mit Handbewegungen unterstreichend, weiter sprach. „Der Kuss entstand in seiner sogenannten goldenen Phase und ist bis heute sein bedeutendstes Werk.“ Ihre Blicke trafen sich kurz und gleich erneut. Annett ließ sich zunehmend fasziniert auf seine Erklärungen ein und so gingen sie zu dritt von Bild zu Bild.

„Nachdem der Maler das Bild 1909 vollendet hatte, kaufte es das zuständige Kultusministerium für 25.000 Kronen an und seither befindet es sich hier im Belvedere.“  Annett hatte zunehmend das Gefühl zu schweben, was nicht nur mit ihrer Ballettausbildung zu tun hatte, die gerade an jenem Tag beendet war. Als sie die Galerie nach zwei Stunden verließen, wusste sie, dass ihre neuen Bekannten Geschwister waren. Sie lebte in Wien und ihr Bruder Bernhard, Offizier bei der Bundeswehr, war in der Heide stationiert. Bei einer Tasse Kaffee zum Abschluss ihrer kurzen Begegnung tauschten sie Adressen und Telefon-Nummern aus. Für sie wurde das Gemälde „der Kuss“ Symbol ihrer Verliebtheit.

 

Angefüllt von ihren vielen kulturellen Erlebnissen kehrte die junge Frau ebenfalls in ihre norddeutsche Heimat zurück und bewarb sich kurz darauf erfolgreich bei John Neumeier als Balletteuse.

 

Sie telefonierten, schrieben sich kurze mails und eines Tages stand er unangemeldet vor ihrer Tür.

 

Juni

 

„Entschuldige den Überfall, aber ich musste dich einfach sehen.“

„Komm rein.“ Strahlend öffnete sie ihm die Tür zu ihrem kleinen Appartement. Er hielt ihr einen Strauß Moosröschen hin und legte sein hübsch verpacktes Geschenk auf den Couchtisch.

„Was magst du trinken? Wie lange kannst du bleiben?“ Aufgeregt plapperte sie drauflos. Und dann saßen sie bei einer Tasse Kaffee zusammen und – endlich – packte sie sein Mitbringsel aus.

„Oh, wie schön!“ Die Vase war nur ca 12 cm hoch und das kleine Windlicht gar nur vier. Beide zierte „der Kuss“ in seiner goldenen Pracht. Sie fiel Bernhard freudestrahlend um den Hals und so bekam sie ihn, den ersten Kuss ihrer Beziehung.

 

Erst später, viel später, berichtete er von seinen Zukunftsplänen. Ein militärischer Einsatz für mehrere Monate in Afghanistan stand bevor.

„Ich liebe dich, Annett…“ „und dieser gemalte Kuss verspricht mir, dass du bald wiederkommst und mir noch viel mehr echte geben wirst, denn ich liebe dich auch“, ergänzte Annett mit Tränen in den Augen.

 

Oktober

 

Es war ein schwieriger Tag für Bernhard. Dennoch – der Einsatzbefehl war klar und präzise. Alles würde wie geplant ablaufen, war er sicher –  bis der Schuss fiel.

 

Zeitgleich saß Annett mit dicker Strickjacke auf ihrem Minibalkon und sortierte einen Strauß Vergissmeinicht in die geliebte Vase auf dem kleinen Tischchen, als unten auf der Straße die offensichtliche Fehlzündung eines Autos derart knallte, dass sie vor Schreck das Gefäß fallen ließ. Es zersprang auf dem Zementboden in viele kleine Teile. 

 

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Geschafft!

 

Aufatmend legte Inga den Kugelschreiber beiseite und massierte ihre versteiften Schultern. Ob die Dozentin und die Mitwirkenden des Schreibseminars mit dem Text einverstanden sein werden?, fragte sie sich und entschied sich für ein – abwarten.

Schreib eine Liebesgeschichte im Stil von Rosamunde Pilcher war die Aufgabe. Inga selbst war eigentlich ganz zufrieden. Sie verließ ihren Schreibtisch und setzte sich mit einer Tasse Kaffee an den Couchtisch. Es war schon Abend geworden. Sie entzündete das kleine Teelicht mit dem goldenen Bild des berühmten Malers, legte eine Platte auf und träumte entspannt vor sich hin.

 

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