Von Annette Müller
Ich bin seine Putzfrau. Denken Sie nicht, das sei keine privilegierte Stellung. Ich weiß alles über ihn, habe Kenntnis von sorgfältig gehüteten Geheimnissen, die weder seine Ex-Frau noch die anderen Frauen auch nur im Entferntesten ahnen. Gerade bin ich mit dem Saugen in seinem Arbeitszimmer fertig geworden. Das dauert immer besonders lang, die meterhohen Papierhaufen müssen vorsichtig umsaugt werden. Ich gebe mir Mühe. Martha ist mein Name.
Trotzdem ist es heute passiert. Einen habe ich umgestoßen, als ich mich gebückt habe, um einen anderen vorsichtig zu umsaugen. Der Papierturm ist umgekippt, vor Entsetzen wie gelähmt habe ich minutenlang auf das Durcheinander von bedruckten Seiten gestarrt. Dabei ist mir ein Buchtitel ins Auge gestochen: Das Festspielbuch. Ja, daran erinnere ich mich gut. Die Manuskriptabgabe stand unmittelbar bevor und er war noch mit den Fotos beschäftigt, besuchte mit einer Fotografin Freilichtaufführungen in der Gegend. In dieser Zeit war das Arbeitszimmer mit Fotos übersät und Staubsaugen verboten. Wir gerieten heftig aneinander, weil auch Küche und Wohnzimmer zunehmend verwahrlosten und mit kleinen verstaubten Papierhäufchen bedeckt waren. Aus diesem Streit heraus entstand seine Novelle Die Mühsamkeit des Drecks. Die Verlegerin war begeistert. Ich bin viel für ihn. Seine Ordnungshalterin, seine Köchin, seine Ghostwriterin. Den Damen gegenüber spielt er immer den großen Charmeur. Dabei benötigt er das Weibliche lediglich zur Inspiration. Zurzeit schreibt er an einem Buch über Beispielgeschichten, aber keine so platten wie das explodierte Kaninchen oder die Spinne in der Yucca-Palme, sondern intelligente Geschichten, über die man nachdenken und sprechen kann, wie die über den Kairos zum Beispiel, das ist der günstige Augenblick, den der Mensch nutzen soll. O Schreck, ich höre den Schlüssel in der Wohnungstür, schnell, ich muss den Haufen wieder als solchen herrichten, sonst schimpft der gnädige Herr, ach, er hat eine Frau mitgebracht, ich höre es an seinem Lachen, dabei wäre ich so gerne dageblieben und hätte ihm das dritte Kapitel abgetippt. Martha, was machen Sie da, Sie müssen doch längst fertig sein, sagt er böse, vor den anderen verleugnet mich der gnädige Herr stets, was glotzt die junge Frau mit den toupierten Haaren, raus, ich mache, dass ich rauskomme, also auf Wiedersehen, bis Montag, und der gnädige Herr scheucht mich ungeduldig zur Tür, er schämt sich meiner, dabei bin ich die Einzige, die ihn wirklich kennt.
Ich bin eine attraktive Frau und heiße Daria. Heute habe ich einen außergewöhnlichen Mann kennengelernt. Er saß mir gegenüber in dem Museums-Café, schrieb in ein kariertes Heft, sein Kugelschreiber bewegte sich rasch über das Papier. Als die Kellnerin einen Kaffee servierte, hob er den Kopf, braune Stecknadelaugen unter buschigen Augenbrauen, Tränensäcke, eine große orientalisch wirkende Nase, schmale Lippen, einen grauen Vollbart. Ein Gesicht wie aus 1001 Nacht. Ich wandte nicht schnell genug den Kopf ab und so trafen sich unsere Augen, er warf mir einen Blick zu, einen Blick, der sich den anderen einverleibt. Unversehens war ich zum Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit geworden. Schon erhob er sich, er ist von mittlerer Statur, korpulent, machte mit seiner Hand eine Geste der Einladung. Ich stand auf, setzte mich zu ihm, darf ich, sagte er, rückte mir den Stuhl zurecht, winkte die Kellnerin herbei, noch mal dasselbe für die Dame, und begann, sich mit mir zu unterhalten. Nach wenigen Minuten hatten wir uns in ein Gespräch über die Ausstellung vertieft, später wechselte er zu Sprache und Literatur. Während ich am Cappuccino nippte, erzählte er mir von seinen Schreibprojekten, wollte meine Meinung dazu hören. Er zählte die Buchtitel auf: das Beispielbuch, das Museum des Aberglaubens, das Kind im Spiegel der Karikatur. Innerlich musste ich grinsen. Beide stehen wir unter dem Druck der Kreativität. Er sammelt Schreibideen und ich bin auf der Jagd nach neuen Themen, schlage mich durch als Content Writerin. Gerade habe ich einen Blog über Tipps für bessere Effektivität im Home Office beendet; jetzt brauche ich dringend ein neues Thema.
Anna ist mein Name, ich bin seine Lektorin. Vor Kurzem bin ich in die freigewordene Wohnung unter ihm eingezogen. Inzwischen besuche ich ihn häufig am Abend. Wir trinken dann zusammen zwei oder drei Gläschen Likör und arbeiten an der Rohfassung für sein neues Buchprojekt. Hin und wieder komme ich auch tagsüber vorbei. Um Inspiration zu finden, schwingen wir uns aufs Motorrad. Ich trage einen weinroten, enganliegenden Motorradanzug. Ihm habe ich einen Helm, eine gebrauchte Motorradjacke und eine schwarze Lederhose geschenkt. Auch als Dank für die vielen Likörgläschen. Wir fahren dann in der Gegend herum, suchen die Orte auf, die mit dem Schreibprojekt zu tun haben. Der Ereignisurlaub. Das soll ein Projekt über erlebte Kultur werden, was weiß ich, Geierflugshow im Altmühltal, Geisterwandern und Hexensabbat in einem Provinznest und Meditation in einer Tropfsteinhöhle. Er ist charmant, ein Kavalier der alten Schule und hat warme, weiche Hände. Wenn die Sonne scheint, dann halten wir bei einer Wiese an, legen uns ins Gras und, Sie wissen schon.
Ich bin seine Exfrau. Vorgestern bin ich zu ihm gefahren, wollte zwei alte Stiche abholen, die mir gehören, ich betreibe ein Antiquitätengeschäft in der Innenstadt. Früher stand er auch ab und zu im Laden, aber nachdem er anfing, wie ein Verrückter Schreibideen zu horten, kümmerte ich mich allein ums Geschäft. Franziska ist mein Name. Nach unserer Scheidung hat er mir jeden Tag einen Göttervogel vor die Wohnungstür gelegt. Die Japaner schreiben ihre Wünsche auf Origami-Papier, falten das Papier anschließend zu einem kunstvollen Vogel, hängen ihn zusammen mit anderen an einem Faden an die Altäre der Götter. Diese Sitte hat mein Ex-Mann mit einem buddhistischen Koan kombiniert, in dem ein Mann eine Frau begehrt, sie aber sagt, zuerst musst du mir deine Liebe beweisen und 100 Nächte auf einem Schemel vor meinem Haus knien und der Mann erfüllt ihr die Bitte, weil er sie liebt, er kniet also 99 Nächte draußen in der Kälte und geht. Nach der Scheidung hat mir mein Mann 99 Göttervögel vor die Tür gelegt, alle enthielten poetische Botschaften, Abschiedstexte, Erinnerungsgedichte. Dann hat er das Ritual abgebrochen und die Papiervögel zurückgefordert. Der Verlag wollte daraus einen Erzählband machen mit dem Titel 99 Göttervögel.
Ich dachte, ich sehe nicht recht, draußen saß mein Mann mit einer aufgetakelten Blondine in Motorradkleidung auf der Marmortreppe, die beiden aßen Kirschen und spuckten die Kerne um die Wette in den Gully. Ja, fahren die etwa zusammen Motorrad oder was? Hallo, sagte ich. Franziska, meine Liebe und Gute, heut’ ist mir ganz traurig zumute, begrüßte er mich mit einem Paarreim, das tut er immer, wenn er ein schlechtes Gewissen hat. Die Blondine warf mir einen erstaunten Blick zu, sie stand auf, verabschiedete sich hastig, fängt sicher gleich zu regnen an, ich fahre das Motorrad in die Garage und verschwand. Mein Ex-Ehemann lächelte mich an, kennst du schon meine neue Schreibidee? Die Rückführungstherapie? Ungeduldig winkte ich ab, ich hatte keine Lust auf seine verbalen Exzesse, fuhr mit dem Aufzug hoch, sperrte die Tür auf, konnte aber nicht in die Wohnung. Im Flur waren Kartons, die den Zugang versperrten. Ich muss dringend ein ernstes Wort mit Martha reden.
Seit heute Vormittag ist der gnädige Herr nicht mehr ansprechbar. Dabei habe ich gedacht, er freut sich, wenn ich ausnahmsweise einmal am Samstag komme. Seinen Espresso hat er stehengelassen und zu Mittag hat er auch nicht gegessen. Stattdessen sortiert er wie besessen seine Papierhaufen neu, hat die Ordner aus den Regalen geholt, dabei sind Motten aufgeflogen, neben den computergeschriebenen Seiten besitzt er Tausende von handschriftlichen Aufzeichnungen auf Rechnungen, Zigarettenschachteln, Rückseiten von Geschenkpapier, die er auf weißes Papier geklebt und in diesen Ordnern ablegt hat. Das Wohnzimmer kann nicht mehr betreten werden und er hat mich angebrüllt, wohin ich denn seine Schreibidee Ideen nehmen keinen Platz weg verräumt hätte.
Nachdem ich meine Putzarbeiten erledigt habe, blicke ich ratlos die Wand an, ich sollte gehen, an der Espressomaschine klebt ein Post-it Schade! Zur Psychologie der verpassten Gelegenheiten. Auch ein Schreibprojekt. Vielleicht hätte ich doch am Montag kommen sollen.
Er hat sich in seiner Wohnung verschanzt, die Jalousien heruntergelassen und geht weder an die Tür noch ans Telefon. Der Vermieter hat angerufen Mein Vater muss raus. Und zwar sofort. Die Nachbarn haben sich beschwert, weil sich vor seiner Wohnungstür Kartons und Müllsäcke auftürmen. Mein Vater ist ein Messie. Ist er auch ein Genie? Das kann ich nicht beurteilen. Ein Chaot und Egozentriker ist er auf jeden Fall.
Ich bin die Tochter. Hanna mein Name. Seit ich denken kann, verbringt mein Vater die Nächte am Computer, und schreibt. Oft genug konnte ich nicht schlafen, saß auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer und schaute zu. Die ganze Nacht ein Klicken und Klacken der Tasten wie eine Million von Insekten, lediglich von den Wutanfällen meiner Mutter unterbrochen. Damals hatte er tagsüber wenigstens noch einen anständigen Job im öffentlichen Dienst. Den gab er nach der Veröffentlichung seiner ersten drei Bücher auf.
Mit meinen Fäusten hämmere ich an die Tür: „Papa, mach jetzt auf!“
„Hanna, Liebling, es geht gerade nicht.“
„Du öffnet jetzt die Tür, sonst rufe ich die Polizei.“
„Hanna Schatz, das tust du mir nicht an.“
„Oh doch.“
Ich verpasse einem der Kartons einen Fußtritt.
„Papa, ich habe eine Autobiografie geschrieben. Sogar schon einen Titel dafür.“
„Ach ja?“
„Ja – mach auf“.
Ich greife zu einem Zettel in meiner Tasche, kritzle etwas drauf und als er die Tür öffnet, halte ich ihm den Zettel vor die Nase. Mein Vater – König der Kisten. Ein Coming-of-Chaos-Roman.
V2 – 9946 Z