Von Olaf Urban-Rühmeier
Irgendwann in diesen Tagen lud Lehmann Nils ein, bei einer Vernissage dabei zu sein. Mit Lehmann, der neben Deutsch auch Kunst unterrichtete, hatte Nils sich schon mehrmals heftige Gefechte geliefert, bei denen es auch um Kunst ging. Als Lehmann die Schülerinnen und Schüler unter der Überschrift „konkrete Poesie“ aufgefordert hatte, ein Gedicht über ihre Gefühle zu schreiben, hatte Nils ein leeres Blatt abgeliefert. Dafür hatte er eine Eins bekommen.
Der Kunstkreis Niebelbarg, in dessen Vorstand Lehmann saß, hatte Werner Abromeit zu Gast, einen Lyriker, der durch seine kurzen Gedichte bekannt geworden war. Die quadratischen kleinen Bücher in gelb-braunen Recyclingfarben lagen in der Buchhandlung aus und kursierten in der Schule. Die Hippiefraktion verschenkte seine Bücher gern, sie trugen Titel wie „Alltagsgedichte“ und „Herz in der Schublade“. Er hatte dafür den Lyrikpreis der Stadt Osterode am Harz gewonnen.
Abromeits Texte waren im Grunde einfache Sätze, die durch Zeilenwechsel so etwas wie Zusatzbedeutung erhielten. Typisch war sein Gedicht „Du bist“
Du sagst, du bist
Ganz anders,
Wenn du bei mir bist
Fühle ich etwas
Besonderes,
Aber was?
Weil in den Gedichten immer wieder auch Landschaften und Blumen vorkamen, hatte der Kunstkreis eine ganze Ausstellung dazu veranstaltet: Bilder inspiriert von den Alltagsgedichten. Lehmann war nicht mit einem Exponat vertreten. Nils fragte ihn, ob Amir nicht mitkommen konnte. Amir hatte erzählt, dass er in Teheran auf eine Kunstschule gegangen war. Wer weiß? Für Lehmann war es OK.
Die Ausstellung fand im Lokschuppen statt. Das war ein alter Backsteinbau neben dem Bahnhof, in dem früher Güter gelagert worden waren, Loks hatten dort eigentlich nie eine Rolle gespielt, aber so klang es besser, wenn der Kunstkreis ihn nutzte.
An dem nämlichen Samstagvormittag drängelten sich einige Leute in dem flachen Bau mit dem grauen Betonboden. Der ganze ehemalige Lagerraum war freigeräumt, an den Wänden hingen die Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler von Niebelbarg. In der Mitte einige Stuhlreihen und ein Rednerpult. Kerzen brannten und an einem Bücherstand konnte man die Bücher von Abromeit kaufen. Es gab Sekt.
Bevor die offizielle Veranstaltung begann, schlängelten Nils und Amir sich von einem Bild zum anderen – Fichten, Blumenwiesen, auch einiges abstraktes. Vor einem Fingerhutmotiv flüsterte Amir „Das ist ganz falsch. Seht mal die Schatten. Das Licht.“
„Amir, nicht so laut.“
„Aber das stimmt nicht. Das ist nicht gut.“
Ein bärtiger Mann guckte uns grimmig an. Hoffentlich war es nicht der Künstler selbst.
„Die Perspektive ist ganz schief.“
Der Bärtige hatte einen ganz Schar von Leuten um sich. Nils zog Amir weg.
Ein Lehrerkollege von Lehmann begrüßte die Anwesenden und führte kurz in die Arbeit des Kunstkreises ein. Dann ging Werner Abromeit ans Pult, räusperte sich und trug sein erstes Gedicht vor. Er musste lange Pausen zwischen den Zeilen machen, damit es etwas hergab. Während er gravitätisch rezitierte, machte sich Unruhe breit. Mehr Sekt wurde herumgereicht. Der Bärtige und seine Sippe tuschelten neben ihnen. Ein kleines Kind brabbelte, während es auf dem Fußboden mit etwas spielte. Dann warf es einen Ball in den Raum hinein, der genau auf Abromeit zusprang. Der machte einen kleinen Schritt zur Seite und schaute sich um. Dann brannte seine Jacke. Er war zu nahe an die Kerzen gekommen.
Abromeit knisterte und qualmte. Amir reagierte am schnellsten, sprang nach vorn und kippte sein Sektglas auf Abromeits Rücken. Es knisterte weiter und er nahm einer Frau ihr Glas aus der Hand und kippte es hinterher. Durch das Tuscheln und Raunen hörte man eine weibliche Stimme.
„Sie haben mir meinen Sekt weggenommen.“
Amir starrte sie wortlos an. Dann drehte sich Abromeit zu ihm und fragte „Waren Sie das?“
Nils wollte Amir beispringen und zeigte dorthin, wo der Ball herkam. Der Bärtige blitzte Nils wütend an und attackierte sofort: „Dieser Mann stört schon die ganze Zeit.“
„Was ist mit meiner Jacke.“
„Mein Sekt…“
Amir verneigte sich mit einer Gandhi-ähnlichen Geste vor der wütenden Frau, die ihren Sekt wollte und murmelte etwas Unverständliches, das sollte wohl deeskalieren. Dann zog Nils ihn aus dem Gewühl.
„Lass uns besser gehen“, sagte er auf dem Weg zum Ausgang. Der Vorsitzende des Kunstkreises versuchte noch zu beschwichtigen und rief „Das ist ja fast eine Performance.“ Amir drehte sich noch um und rief „Die Perspektive stimmt nicht!“ Nils rief „Er spricht noch nicht so gut deutsch!“, dann waren sie draußen.
Sie liefen zwei Häuser weiter und setzten sich dann auf eine Treppenstufe. Amir atmete hörbar aus. Nach einem Moment Schweigen stand Nils auf ging über die Straße zum Bahnhofskiosk und kaufte zwei Holsten.
Während sie noch tranken kam Carsten Jahnke, Lehmanns Vermieter und stadtbekannter Querkopf. Nils grüßte ihn.
Jahnke blieb stehen und fragte „Was macht ihr denn nächtens auf Treppenstufen?“ Nils versuchte, ihm zu erklären, weshalb sie dort saßen. Er hörte zu, trank aus einem mitgebrachten Flachmann und nickte. Nils erklärte ihm auch, wer Amir war.
„Und Lehmann war auch dabei?“ fragte er. Nils nickte.
„War ja irgendwie klar. Naja …“, er stand auf, „Kunst ist eben Quatsch, weltweit, im Iran und Deutschland. Macht lieber selber etwas, dann wisst ihr wenigstens, was für ein Quatsch es genau sein soll.“ Dann ging er.
Version 2