Von Thomas Gärtner
Als Schlönz an diesem Dienstagmorgen aus dem Fenster seiner Dachgeschosswohnung blickte, ahnte er noch nicht, dass heute der Tag gekommen war, an dem er zum gefeierten Künstler der Stadt avancieren würde – und zwar fast ohne eigenes Zutun.
Er gähnte, kratzte sich am Bauch und tappte, noch ganz schlaftrunken, zur Kaffeemaschine. Dort stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass die Dose neben den Filtertüten leer war. Und zwar nicht nur ein bisschen leer, sondern kompromisslos leer. Ohne Rückstände. Eine leerere Dose hatte er noch nie gesehen.
Schlönz war von der Leerheit dieser Dose schockiert und beschloss sofort, zur Tanke zu radeln, dort neues Kaffeemehl zu kaufen und damit der traumatische Leere der Kaffeedose ein Ende zu setzen. Und zwar wollte er im Bademantel dort hin, die Sache duldete keinen Aufschub.
Auf dem Balkon unterschätzte er jedoch den Farbeimer auf der Brüstung. Der stand dort schon seit Wochen, ein wenig angetrocknet und zerbeult, aber anscheinend lebendiger und einsatzfreudiger denn je. Denn als Schlönz versuchte, sich an der Balkonbrüstung vorbeizumogeln, um an sein Fahrrad zu kommen, blieb der Gürtel seines Bademantels am Henkel des Eimers hängen. In einem eleganten Schwung, wie ihn sonst nur olympische Trampolinturner zustande bringen, riss es den Eimer hoch, der sich in der Luft drehte, einen graziösen Bogen beschrieb und seinen gesamten Inhalt – eine Art ockergrün-magentafarbene Paste – auf die Straße unten ergoss.
Exakt in diesem Moment fuhr dort ein Lastenfahrrad mit einer Kiste voller Bananen vorbei. Der Fahrer schrie kurz auf, rutschte aus, das Rad kippte, und die Bananen flogen wie Projektile in alle Richtungen. Drei davon landeten direkt auf einer grauen Hauswand gegenüber, zusammen mit einem dicken Klecks Farbe.
Ein älterer Herr mit Schal und Notizbuch stand zufällig dort, schob seine Sonnenbrille auf die Stirn und rief:
„Wow! Der gesellschaftskritische Kontrast zwischen Natur und industrieller Dekadenz. Das ist… roh. Das ist echt. Das ist – Kunst!“
Eine halbe Stunde später war das Haus abgesperrt, ein roter Teppich ausgerollt, und eine Gruppe Hipster mit Dutt, Hornbrille und übergroßen Kaffeetassen in den Händen diskutierte angeregt über das *posturbane Fruchtversagen als Ausdruck modernen Kontrollverlusts*.
Schlönz, inzwischen zurückgekehrt von der Tanke und noch immer im Bademantel, stellte sich dazu. Reporter interviewten ihn, er bekam einen Blumenstrauß überreicht und wurde für den „Städtischen Förderpreis für experimentelle Straßenkunst“ nominiert. Das alles in rasantem Tempo, so rasant, dass seine Berühmtheit förmlich mit Lichtgeschwindigkeit wuchs.
Am nächsten Tag wurde sein Balkon mit einer Riesenplakette ausgestattet.
„Ort der spontanen Entgrenzung – Installation von Schlönz, Juni 2025“war dort zu lesen und in der Presse hieß es: „Um Längen sozialkritischer als die Honigpumpe von Beuys.“
Schlönz schlürfte seinen Kaffee und beschloss, nichts, aber auch rein gar nichts mehr wegzuwerfen. Man konnte ja nie wissen.
Zwei Wochen später wurde der Ort der Kunst-Installation unter Denkmalschutz gestellt.
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