Von Andreas Schröter

Als der 14-jährige Vittorio Alighieri am 12. Dezember 1298 um kurz vor Mitternacht durch eine schmale Seitenpforte die Basilika San Francesco in Assisi betrat, hatte er vor allem eines: Angst. Ganz entsetzliche Angst. Der Küster, dieser fette und immer schwitzende Mönch Alberto, hatte erst vor wenigen Minuten die Kerzen gelöscht. Nur im hinteren Bereich der Basilika brannte eine einzelne Fackel, deren flackerndes Licht tanzende Schatten auf die Wände warf – fast so, als würden irgendwelche Gestalten dort einen wilden Tanz aufführen. Weite Teile des großen Innenraums waren jedoch schlicht in eine fast vollkommene Schwärze gehüllt. Würde sich hier jemand aufhalten, hätte Vittorio keine Chance, ihn zu sehen. Die gesamte Szenerie trug ganz und gar nicht zur Beruhigung seiner Nerven bei.  

Er zog die kleine Seitentür, von der er wusste, dass sie stets unverschlossen blieb, etwas weiter auf. Das misstönende Quietschen, das sie dabei ausstieß, ließ den Jungen zusammenzucken. Er verharrte kurz in seiner Bewegung, um zu hören, ob sich irgendwo etwas regte. Er wusste nicht, ob Albertos Schlaf leicht war und wie gut seine Ohren waren. Doch alles blieb ruhig. Also tastete sich Vittorio vorsichtig weiter ins Kirchenschiff. Nicht vorsichtig genug offenbar, denn er stieß nach wenigen Metern gegen eine der Kirchenbänke. Nur mit Mühe gelang es ihm, einen spitzen Schrei zu unterdrücken. Als der Schmerz nachließ, holte er eine kleine Kerze aus den Tiefen seines Gewands. Er würde sich, um sie zu entzünden, erst zur einsam brennenden Fackel vortasten müssen.

Fünf Minuten später stand er mit brennender Kerze vor dem Ziel seines nächtlichen Ausflugs: dem verhassten Fresko über die Grablegung des Heiligen Franziskus von Assisi. Verhasst deswegen, weil er als Diener – vermutlich war „Sklave“ der bessere Ausdruck – des großen Malers Giotto di Bondone zu schuften hatte. Letzterer jedoch würde sich für diese Fresken vermutlich einen Jahrhunderte anhaltenden Ruhm sichern. Und das, obwohl nicht di Bondone selbst, sondern seine Helfershelfer wie Vittorio einen Großteil der Arbeit erledigten. Aber ihr Name würde nirgendwo auftauchen. Stattdessen reagierte der Maler äußerst ungehalten, wenn ihm die Arbeit nicht schnell genug ging oder ihm irgendein unbedeutender Hintergrund auf einem der riesigen wandfüllenden Gemälde eine Nuance zu hell oder zu dunkel erschien. Erst am Vortag hatte di Bondone Vittorio gezwungen, sich über eine der Kirchenbänke zu beugen und die Hosen herunterzulassen. Dann hatte er ihm zehn feste und äußerst schmerzhafte Schläge mit dem größten Pinsel, den er besaß, aufs Hinterteil verpasst. An eine sitzende Haltung war für Vittorio an diesem Tag nicht mehr zu denken gewesen. Dabei war ihm lediglich ein winziges Tröpfchen Farbe auf den überaus heiligen Kirchenboden gekleckert. So etwas passierte eben beim Malen.

Doch di Bondone kannte offenbar seinen Helfer noch nicht gut genug. Eine solche Behandlung würde der sich nicht ungerächt gefallen lassen. Und genau das war der Grund, warum der Junge nun mit einer brennenden Kerze vor dem Grablegungsfresko stand, auch wenn er in diesem Moment alles andere als sicher war, dass sein Plan ein guter war. Am liebsten wäre er durch die Seitentür wieder dorthin gegangen, woher er gekommen war: ins warme Bett in der Kaschemme im Haus seiner Eltern. Doch das ließ seine Ehre nicht zu. Nun würde er das tun, was er sich vorgenommen hatte.

Er würde dem Wandbild eine ganz eigene Note verpassen, eine Note, die erstens im krassen Widerspruch zu seiner sonstigen allzu heiligen Aussage stand und die zweitens ganz unverwechselbar das Markenzeichen eines Vittorio Alighieri sein würde. Behände, wie es nur ein 14-Jähriger kann, erklomm er das Gerüst, das vor dem Fresko stand, und kletterte hinauf. Es schauderte ihn, als er an der Darstellung des Heiligen auf seiner Bahre vorbeikletterte. Sicher waren Heilige imstande, aus dem Himmel zu sehen, was die Erdlinge so trieben. Fast rechnete er damit, dass ihn jeden Moment ein Blitz treffen oder das wackelige Gerüst unter ihm zusammenbrechen würde. Doch nichts dergleichen geschah. An den Wolken des Bildes angekommen, zückte der Junge einen dünnen Pinsel und zauberte innerhalb weniger Minuten das Antlitz des Teufels auf das Fresko, mit Hörnern, spitzer Nase und einem boshaften Grinsen. Einen stärkeren Gegensatz zur Heiligkeit des Bildes konnte sich Vittorio nicht denken. In den Tagen zuvor hatte er immer wieder geübt, die Gestalt mit wenigen Pinselstrichen und in großer Schnelligkeit zu erschaffen.

Er hatte soeben den letzten Handgriff getan, als er von unten Geräusche vernahm. Er erstarrte, war aber noch so geistesgegenwärtig, die Kerze zu löschen. Wer um Himmels Willen kam mitten in der Nacht in die Kirche? Von unten vernahm er Stimmen. Es waren die von dem Mönch Alberto und Meister Giotto di Bondone. Weitere Fackeln wurden entzündet, und im Kirchenraum wurde es immer heller. Vittorio wagte kaum zu atmen. Wenn er nun entdeckt würde, war es mit zehn Stockschlägen nicht getan. Dann würden fortan all seine Familienangehörige als Aussätzige behandelt werden.

Nun standen der Maler und der Mönch unmittelbar unter dem Gerüst, auf dem sich Vittorio befand.

„Alberto, mein Freund, seien Sie ehrlich, wie gefällt Ihnen die Darstellung des Franziskus?“

Der Mönch war nicht dafür bekannt, einen so berühmten Maler zu kritisieren: „Es ist ganz großartig geworden, verehrter Meister! Man erkennt die Trauer und den Schmerz der Umstehenden, aber zugleich auch die zum Himmel gewandte Erhabenheit des Heiligen Franziskus.“

„Ich bin anderer Meinung, mein Lieber. Das Bild ist Pfusch. Ich hätte niemals diesen Bengel Vittorio oder wie immer er heißt, damit beauftragen dürfen, an den Feinheiten zu arbeiten. Aber Sie wissen ja, mein weiches Herz. Trotzdem: Ich werde ihn morgen entlassen. Es gibt genug Hergelaufene, die ihn ersetzen können.“

Der Mönch nickte eilfertig, und Vittorio auf seinem Gerüst durchfuhr trotz allen Entsetzens eine Zorneswelle. Er hatte nicht nur an den Feinheiten gearbeitet, sondern den kompletten Franziskus gemalt.

„Verehrter Meister“, begann nun wieder der Mönch mit seiner unangenehmen Fistelstimme, „ich möchte Ihnen aber noch ein ausdrückliches Lob für den oberen Teil des Bildes aussprechen – mit dem Himmlischen Vater selbst und seinen Engeln über den Wolken. Sie würden mir eine große Freude bereiten, wenn Sie mit mir nach oben steigen und mir einige Details zum Beispiel zur Farbmischung aus der Nähe erklären könnten.“

„Sehr gerne, mein lieber Alberto.“ Der Maler war offenbar geschmeichelt und ging schon, gefolgt von dem Mönch, einen ersten Schritt auf die unterste Leiterstufe zu. Vittorio begrub all seine Hoffnungen, ungesehen zu bleiben. „Aber nicht heute“, ließ sich der Maler nun vernehmen, „bei Dunkelheit könnten wir leicht einen falschen Schritt tun. Außerdem ist es schon spät.“ Mit diesen Worten wandte sich Giotto di Bondone zum Ausgang. Alberto folgte ihm und löschte nach und nach sämtliche Fackeln – auch die, die zuvor als einzige noch gebrannt hatte.

Vittorio brauchte eine halbe Stunde, um seinen Puls wieder auf Normalniveau zu bringen. Erst dann traute er sich vorsichtig und tastend wie ein Blinder, das Gerüst hinabzusteigen.

***

In den folgenden Tagen – Giotto di Bondone hatte seine Ankündigung wahrgemacht, ihn mit Schimpf und Schande zu entlassen – schlief Vittorio schlecht. Auch tagsüber begleitete ihn eine ständige Nervosität. Er rechnete stets damit, dass ihn irgendwelche Vasallen der Kirche abholen und ihn mit seiner nächtlichen Schandtat konfrontieren würden. Die Folgen wären unausdenkbar gewesen. Auch wurde Vittorio von schlechtem Gewissen geplagt. Er betete mehr als sonst und bat den Heiligen Vater mindestens zehn Mal am Tag um Verzeihung. Auch seine spätere Berufswahl – Priester – hing mit seiner Jugendsünde in jener ganz speziellen Nacht zusammen.

Vittorio Alighieri wurde 80 Jahre alt, was im 14. Jahrhundert höchst selten war, doch es verging in seinem langen Leben kein Tag, an dem er nicht an den kleinen Teufel auf dem Grablegungsfresko in der Basilika San Francesco in Assisi dachte. Und es verging kein Tag, an dem er nicht damit rechnete, dass nicht doch noch die Heilige Inquisition oder sonst wer vor seiner Tür stehen, ihn abholen, grausam foltern und hinrichten würde. So etwas wie Glück fand er wegen dieser Albträume nie. Doch all das geschah niemals.

Die schlechten Erfahrungen, die Vittorio mit seinem Lehrmeister Giotto di Bondone machte, machten andere Zeitgenossen übrigens nicht. Sie beschrieben ihn als künstlerischen Revolutionär mit einem realistischen Blick auf die Welt, als intelligenten, humorvollen Menschen, der seinen Ruhm durch echte Innovation und Können erlangte – aber dabei offenbar bescheiden blieb. Seine Kunst war menschlich, sein Charakter soll es ebenfalls gewesen sein. Vittorio Alighieri kam all das zu Ohren. War Giotto vielleicht gar nicht so grausam, sondern einfach nur fordernd? Hatte er überreagiert, weil er unter enormem Druck stand?  

***

Im Jahr 2011 untersuchte die Kunsthistorikerin Chiara Frugoni die Fresken in der Basilika San Francesco in Assisi. Dabei stieß sie auf die Teufels-Darstellung in den Wolken der Grablegungs-Szene. Vittorio Alighieri erlebte es nicht mehr, doch sein kleiner Pinselstreich überdauerte sieben Jahrhunderte – verborgen in einem Teil des Gemäldes, das nur selten die Aufmerksamkeit seiner Betrachter erlangte.

Siehe auch: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/basilika-von-assisi-raetselhafter-teufel-auf-fresken-entdeckt-a-796737.html

9497 Zeichen

V2