Von Miriam Mlecek

Sie starrt zum wiederholten Mal auf die abgebrochene Bleistiftzeichnung in ihrem Skizzenbuch, als würde sich ihr Entwurf durch akribisches Hinsehen von selbst vervollständigen. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um ein temporäres Gebilde, das sich seinem Nutzer anpasst, sich möglicherweise mit ihm bewegen kann. Mehr Maschine als Architektur. So wie Archigrams Walking City– dort wo die Stadt gebraucht wird, entsteht sie. Oder die Instant City, in der Gebäude durch Ballons versetzt werden. In der man keine Autos braucht, weil sich die Gebäude bewegen. In der keine Autos gegen Beton fahren können, weil es keine Wände gibt.  Eine Stadt, in der ihre Familie noch am Leben wäre. Mit einem Knall schlägt sie das Skizzenbuch zu. Der Gedanke an ihre Familie hat ihr sofort einen schwarzen Schwindel vor die Augen getrieben. Keine Hoffnung mehr auf Vervollständigung. Müde fährt sie sich mit der Hand durch ihre schulterlangen Haare, in denen sich die ersten grauen Strähnen verstecken. Hat ohnehin keinen Zweck ihrem Bauherren derart gewagte Ideen vorzustellen. Der hat als Projektentwickler andere Pläne für seine Bürohäuser. Am Ende wird es doch wieder die übliche Kiste, kein Kunstwerk. Im Weggehen klopft sie schnell ihre schwarzen Hosen glatt, die das Muster der Parkbank angenommen haben, bevor sie zielstrebig die steinigen Treppenstufen hinunter zur Straße nimmt. Es gibt nur einen Ort, der sie jetzt aufmuntern kann. Ein Ort, der sie an etwas erinnert und an dem sie sich auf eine ursprüngliche Art aufgehoben fühlt. Vor der Lost Pages Galerie angekommen betrachtet sie die Videoinstallation hinter der Glasfront. In der leicht verstaubten Fensterscheibe überlagert sich der dahinterliegende Raum mit der Reflektion ihrer dürren Gestalt. Früher war sie nicht so ein Strichmännchen gewesen. Als stünde sie kurz vor der Auflösung! Was für ein Kontrast zu der durchtrainierten, hellen Erscheinung von vor 20 Jahren. Ihr Leben hätte damals eine andere Richtung nehmen können. Es war eine rein pragmatische Entscheidung gewesen das Architekturstudium zu wählen. Aber damit kam sie sich an der Kunsthochschule deplatziert vor wie ein Kuckuckskind im fremden Nest. Die Künstler blickten geringschätzend auf die Zunft der Architektur, die Nützliches erschuf, aber eben doch „nur“ aus Ingenieuren bestand. Umgekehrt lachten die Architekten die Kunststudierenden aus, mit ihren ästhetischen Verrücktheiten, gerade gut genug für Kunst am Bau! Aber sie lachte nicht mit. Die Ateliers der Kunstklassen übten mit jedem Tag eine größere magische Anziehungskraft auf sie aus. Jeden Tag beobachtete sie wie die Künstler durch die meterhohen, herrschaftlichen Flure in den weißen Hallen schwebten. Sie wirkten privilegiert, frei und ohne Zwang. Die Welt gehörte der Kunst, und die Kunst war hier zu Hause. Sie dagegen fühlte sich fremd. Jeden ihrer eigenen Entwürfe, jede ihrer Skizzen musste sie vor den alten Augen und grauen Bärten ihrer Professoren begründen, erklären, rechtfertigen. Zwei Jahre quälte sie sich durch Entwurfsseminare, Technische Gebäudeausstattung, Bauphysik und CAD Zeichenkursen, bevor sie endlich ihren ganzen Mut zusammennahm und einen Vorstellungstermin in der Kunstklasse von Regine Hart ausmachte. Regine Hart! Ihre Heldin, die Pionierin der Installationskunst! Von ihrem Arbeitsraum im Obergeschoss des mächtigen Altbaus stieg sie hinab in den verwilderten Garten und betrat das Hofgebäude, in dem eine besondere Atmosphäre herrschte. Eine Ehrfurcht vor großen Namen hallte durch die Gänge. Ihre Hände umklammerten zitternd eine Din A 1 große Mappe mit Zeichnungen von Transiträumen, die bei ihren Professoren nur Kopfschütteln hervorgerufen hatten. Raum-Maschinen, die an Flughäfen, Durchgangsorten oder Bahnhöfen installiert werden konnten, in denen Reisende mit während des Unterwegsseins verpassten Reizen von Klang, Licht und Stimmung wieder „aufgeladen“ werden sollten. Ihre Räume wollten den Verlust der Sinneseindrücke des Menschen im Bezug zur Reisegeschwindigkeit kompensieren. 

Die Klasse Hart war ihre Chance, der Umsetzung ihrer Entwürfe einen Schritt näher zu kommen, vielleicht ein Prototyp für eine Ausstellung bauen zu können. Am Ende könnte sie womöglich in die Kunstklasse wechseln, weg von der Architektur. Endlich ankommen, endlich ans Ziel kommen. Ihr Herz klopfte mit jedem Schritt schneller. Mitten im Flur versperrte eine Menschentraube ihren Weg. Performances waren nicht ungewöhnlich hier im Künstlertrakt. Inmitten der Menschen konnte sie eine junge Frau erkennen, auffällig geschminkt, Hochsteckfrisur, Minikleid. Die Performerin blickte im Kreis herum, forderte eine zufällig ausgesuchte Person zum Tanz auf, trank danach ein Glas Vodka und schnitt sich mit ausdrucksloser Miene mit einer Rasierklinge in den Arm. Das Blut der Schnittwunden fing sie in Taschentüchern auf, die schließlich in einer Stacheldrahtskulptur aufgespießt wurden. Noch ein Tanz, dann noch einer, und noch einer. Die Performerin trank schwankend den nächsten Vodka. Es mussten schon einige gewesen sein, denn sie stolperte zu Boden und blieb reglos liegen. Die Menschen im Kreis klatschten. Lautlos schlich sie an den Zuschauern vorbei weiter in Richtung des Ateliers der Klasse Hart. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie sich zwei Rettungssanitäter zur Performerin durchkämpften. Sie drückte die Mappe wie eine Rüstung an sich, ihr Herz war kurz vor dem Zerspringen. Wie würde die Hart auf ihre Arbeiten reagieren? Würde sie eines Tages auch hier den Gang entlang schweben? Endlich frei ihren Ideen folgen können? Alles, was sie in den Jahren zuvor erarbeitet hatte, schien auf diesen einen Moment hinauszulaufen. Im hintersten Trakt, zwei Schritte vor der letzten Tür erreichte sie der Anruf. Es hatte einen Unfall auf der Stadtautobahn gegeben. Der Wagen war ins Schleudern geraten und frontal gegen eine Mauer geprallt. Ihre Eltern und ihre zwei Schwestern hatten keine Chance gehabt. Sie erinnert sich noch, wie die Zeichnungen aus ihrer Mappe auf den kalten Marmorboden glitten und dort Kratzer und Farbreste überdeckten. Von den Stunden und Tagen danach weiß sie dagegen nicht mehr viel. Jemand musste ihre Zeichnungen aufgehoben und in ihr Fach gelegt haben, jemand musste sie nach Hause gefahren haben. Jemand von der Seelsorge kam vorbei. Jemand stellte sie zwei Jahre später im Architekturbüro an. Jemand lebte ihr Leben für sie weiter. Vor der Scheibe der Lost Pages Galerie presst sie das Skizzenbuch mit ihren Maschinen fest an ihr Herz.