Von Jochen Ruscheweyh

„Ich bin der einzige, der die wahre Geschichte von Kat Wyoming und dem Prediger kennt. Und nur ich, der alte Bill, kann sie erzählen.“

Der heruntergekommene Mann spuckte aus und rückte seinen Hut gerade.

Die Jungen, die ihn umringten, schauten auf die Flasche Whiskey, die Bill wie ein Neugeborenes in seinem Arm schaukelte. Aber das hielt den alten Bill nicht davon ab, weiterzuplaudern.

„Eigentlich war er nur auf der Durchreise, wollte in ein kleines Nest oben am Destination River, aber Walt Starr und seine Leute griffen sich ihn, grade als er die Postkutsche besteigen wollte.“

„Spiel mit uns, Prediger!“, rief einer der Jungen und schaute sich Beifall heischend unter den Seinigen um.

Der alte Bill spuckte abermals aus. „Willst du die Geschichte weitererzählen, Junior?“

Der auf diese Weise Aufgeforderte schob seine Brust vor: „Warum nicht, Sie haben sie uns ja oft genug erzählt.“

„Ich sag dir, warum nicht, weil du nichts anderes im Kopf hast, als das, worauf der Esel deines Alten seine Fladen lässt.“

Die Wangen des Jungen färbten sich rot. „Mein Alter hat keinen Esel, sondern einen Hengst, so groß wie ein Fels!“, hielt er entgegen.

Der alte Bill entkorkte seinen Whiskey, setzte die Flasche an und nahm einen kräftigen Zug. „Entschuldige, Jamie Lawrence“, begann er dann, „du hast recht. Worauf euer Hengst seine Fladen lässt.“

Der Rest der Meute grölte.

Jamie blickte erst zum alten Bill, dann zu Boden, als er verstanden hatte.

„Black Jack! Runde auf Runde!“, fuhr Bill fort, „Sie zogen ihm die Hosen aus, wenn er denn welche angehabt hätte.“

„Stimmt es eigentlich, dass Prediger nichts unter ihrem Gewand tragen?“, fragte ein anderer der Jungen.

Der alte Bill stieß geräuschvoll auf, bevor er weitersprach. „Nun, dieser Prediger trug zumindest ein anständiges Bündel Dollarscheine unter seinem Gewand.“

Gelächter.

„Gegen Walt Starr und seine Leute hatte er nicht den Hauch einer Chance, unser Mann Gottes. Und wenn der Herrgott persönlich am Tisch gesessen hätte, selbst dem hätten sie die Hosen ausgezogen mit ihrem gezinkten Kartenspiel. Wie auch immer, der Prediger umklammerte seine letzten Dollar und Walt teilte aus zur finalen Runde, als die Saloon-Tür aufflog.“

Bill nahm einen weiteren spannungssteigernden Schluck, ließ ihn langsam die Kehle hinunterrinnen und ein langgezogenes Ahhhh … herrlich! ertönen. Erst dann fuhr er fort.

„Noch ehe einer von Walts Männern seinen Colt ziehen konnte, peitschte ein Schuss durch den Saloon und durchbohrte den Stapel Karten, den Walt gerade im Begriff war, auszugeben. Walt, bis auf die Knochen gedemütigt, stieß einen furchtbaren Fluch aus und griff an sein Halfter, aber weitere drei Schüsse erfüllten den Raum. Ohne Vorwarnung stürzte der geschwungene Lüster von der Decke, knallte auf den Tisch, dass das heiße Wachs nur so in der Gegend herumspritzte. Wortlos duchschritt Kat den Saloon, packte den Prediger an seinem Kollar und zog ihn hinaus in die Abendsonne.“

„Was wollte sie denn mit ihm machen?“, fragte ein dicklicher, sommersprossiger Rotschopf in Latzhose.

Der alte Bill tippte gegen dessen Stallmütze und sagte: „Messerscharf beobachtet, Prärielocke, was macht man mit einem Prediger? Nun, zuerst einmal nahm sie ihn mit auf ihr Zimmer. Dort forderte sie ihn auf, sich zu entkleiden, wobei sie ihm in aller Seelenruhe zusah. Dann ließ Kat ein Bad ein. Du stinkst schlimmer als eine Horde räudiger Schakale, rief sie dem Prediger zu, schrubb dich sauber und dann komm in mein Bett. Das ließ sich der Unbekleidete nicht zweimal sagen.“

„Prediger dürfen nicht zu Frauen ins Bett steigen!“, beharrte der sonnengefleckte Junge.

„Sagt dir deine Mutter nicht auch immer, du sollst deiner älteren Schwester nicht in den Ausschnitt gucken und tust du es nicht trotzdem?“

„Virgil ist ein Lüstling!“, skandierte einer der Älteren.

Der alte Bill ließ sich nicht aus dem Konzept bringen: „Nachdem Kat mit ihm so verfahren war, wie man einen Bronco züchtig reitet, rollte sie von ihm herunter und grunzte wohlig. Warum hast du mich gerettet?, fragte der Prediger. Damit du mir das Lesen beibringst, flüsterte Kat mit geschlossenen Augen. Und dann als Warnung: Ich esse mit durchgeladenem Colt, ich schlafe mit durchgeladenem Colt und selbst wenn ich meine Freudenbüchse schrubbe, liegt ein durchgeladener Colt neben der Wanne. Also, keine Dummheiten verstanden?“ – „Warum willst du lesen lernen? Früher oder später wird man dich – Gott sei deiner Seele gnädig – ohnehin hängen.“

Kat griff nach ihrem Colt und drehte die Trommel. Ich will es lernen, das ist alles, was du wissen musst.

Der Prediger nickte. Dann sagte er: Wenn ich es dir beigebracht habe, dann lässt du mich gehen?

So wahr ich Kat Wyoming heiße, bestätigte sie. Gut, dann lass uns keine Zeit verschwenden. Sieh nach oben, über uns befinden sich der Speicher und das Dach. Soeben hast du deinen ersten Buchstaben gelernt, das A. Und sieh hier – er fuhr mit einem Finger die Kontur ihrer Brüste nach – ein B, aber nimm dich in Acht vor der züngelnden Viper, er ließ seinen  Daumen in Schlangenlinien ihren Bauch hinuntergleiten – ein S.

Die nächsten drei Tage verließen Kat und der Prediger das Bett nicht mehr, liebten sich oder übten das Alphabet.

Als der Prediger am vierten Tag erwachte, saß Kat auf ihm und stieß ihm ihren Colt gegen die Brust.

In der linken Hand hielt sie einen Brief, geschrieben in schwungvollen Lettern.

Mit der stockenden Stimme einer Erstklässlerin las sie vor: Der Mörder deiner Schwester ist ein Priester und auf der linken Wange trägt er ein Mal. Grob drückte sie seinen Kopf auf die Seite. Auf seiner Wange prangte ein Muttermal, so groß wie ein Indianerkopf-Cent. Ich bin nicht der, von dem in diesem Brief gesprochen wird, presste er hervor. Du lügst, entgegnete Kat und spannte den Abzugshahn. Weißt du was?, grinste der Prediger, ich glaube nicht einmal, dass du eine Schwester hast. Ich denke vielmehr, du hast Angst, dich in mich zu verlieben und dich an mich zu binden.

Ohne ein weiteres Wort schoss Kat die Trommel leer“, endete der alte Bill.

„Was ist die Botschaft ihrer Geschichte, Mister Bill?“, fragte der kleine Virgil.

„Was die Botschaft ist?“, fragte Bill und dann noch einmal lauter: „WAS DIE VERDAMMTE BOTSCHAFT IST? Dass eure Pause längst vorbei ist und ihr Taugenichtse jetzt schleunigst wieder rein zu eurer Miss Lehrerin geht und lesen lernt, damit ihr merkt, wenn man euch verladen will! Und jetzt haut endlich ab!“

Die Jungen stoben auseinander und gingen maulend mit gesenktem Kopf zurück in die Klasse;  vorbei an ihrer Lehrerin, die mit verschränkten Armen auf der Treppe stand.

„Katherine“, sagte der alte Bill und tippte sich an den Hut.

Langsam schritt sie die Stufen herunter und strich ihren Rock glatt, bevor sie sich zu Bill auf die Holzbank setzte.

„Wann begreifst du es endlich, Billy“, seufzte sie, „es gibt keine Zukunft für uns. „Schwör dem Whiskey ab und geh zurück in deine Kirche, diese Siedlung braucht seinen Prediger und Gott seinen Mann hier bei uns.“

„Gott kann mich mal! Mach die Schule zu und brenn mit mir durch, Katherine!“

„Billy, sieh dich doch einmal an.“

„Ich stehle uns ein Pferd und heute Nachmittag sind wir jenseits vom Destination River …“

Der alte Bill blickte sich um und lief wahllos auf einen angebundenen Gaul zu.

„Billy! Hör auf damit!“, rief Katherine, aber Bill hatte bereits einen Fuß im Steigbügel und begann, sich auf den Mustang hinaufzubugsieren. Das Pferd schüttelte sich kurz, aber heftig genug, dass Bill auf den Boden fiel und – wie eine auf den Rücken gedrehte Kakerlake – versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Als Bill aufblickte, stand der kleine Virgil vor ihm und sagte: „Ich weiß jetzt, was die Botschaft ist: Sie selbst Mister Bill. Und dass wir nicht so werden dürfen wie Sie. Ich hoffe, dass Gott uns dabei hilft.“

Mit diesen Worten hielt er dem alten Bill seine Hand hin, der sich vorsichtig mit Hilfe des kleinen Jungen hochzog.

Ohne sich noch einmal umzublicken, taumelte Bill die Straße hinunter.

Drei Schüsse peitschten durch die Luft.

Bill sackte zusammen.

Auf der Treppe der Schule ließ Jamie Lawrence das Gewehr sinken.

„Mein Alter hat einen verdammten Hengst, keinen Esel“, sagte er.