Von Andrea Gebert

Dass, was er an Vera am meisten liebte, war die Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen. Egal ob er etwas brauchte oder nicht; er ging jeden Tag in den Laden und kaufte irgendetwas. Sie saß an der Kasse, nahm die Ware in die Hand, um die Preise abzulesen, und tippte sie ein. Das tat sie mit größter Aufmerksamkeit und leicht geöffnetem Mund. Wenn sie den Betrag nannte, den er zu zahlen hatte, sah sie ihn an und er starrte auf die Lücke. Ihre Schneidezähne waren groß und ein wenig schief, so dass sie die Eckzähne etwas überdeckten. Es dauerte Wochen, bis er es wagte, sie anzusprechen. Sie gingen Eis essen und ins Kino und als seine Mutter ihn  vor Weihnachten fragte, ob  endlich  eine Schwiegertochter  in Aussicht sei, bejahte er dies. Und als die Frage nach der Herkunft  und den beruflichen Plänen seiner Zukünftigen kam, machte er sich erst gar nicht die Mühe Vera eine akademische Karriere anzudichten, denn lügen war noch nie seine große Stärke gewesen.

„Ein Ladenmädchen“ tobte der Vater und als Georg daraufhin konterte, dass der Großvater schließlich auch nur Bauer sei, war der weihnachtliche Friede dahin. Vera gelang es selbigen wieder herzustellen. Ihr sanftmütiges Wesen beschwichtigte selbst den Vater. Einige Zeit später war es genau diese Sanftmut, die Georg auf die Palme brachte. Vera war immer das liebe Mädchen, das es mit keinem verderben wollte. Sie sagte zu allem „Ja“, versuchte es jedem recht zu machen. Sie murrte nicht, wenn er wieder einmal zu spät zu Verabredungen kam, weil er über seinen Experimenten die Zeit vergessen hatte. Es schien ihr nichts auszumachen, wenn er mit Freunden Bier trinken ging, anstatt etwas mit ihr zu unternehmen, es störte sie nicht, wenn seine Klamotten in der ganzen Wohnung herum lagen. Widerspruchslos ließ sie alles über sich ergehen, bis das Unfassbare geschah:

Sie hatte sich, ohne ihm etwas zu sagen, bei der Lufthansa als Stewardess beworben und eine Zusage erhalten. Es gab nur eine Bedingung: sie musste sich die Zähne richten lassen. Er beschwor sie, es nicht zu tun. Er verbot es ihr.

Und sie, die sonst alles tat, was er wollte, die nie auch nur den Funken eines Widerspruches erhoben hatte, widersetzte sich. Das war das Ende.

Er bekam einen Lehrstuhl an der TU in Berlin, fand trotz der Wohnungsnot in den Achtzigern eine Wohnung am Bayerischen Platz und heiratete völlig überstürzt wenige Monate später Diana. Den Ausschlag dazu hatte ihr Kinngrübchen gegeben. 

Diana studierte Modedesign und Graphik. Ihre Entwürfe waren wie ein Hauch und allesamt aus Seidenpapier gefertigt. Diana selbst war alles andere als ein Hauch- ihre Vehemenz erschreckte ihn teilweise. Es gab nichts, aber auch gar nichts, was ihren Widerspruch nicht herausforderte, selbst wenn es nur um die Sorte der Butter ging, die sie einkauften. Nach einiger Zeit war sich Georg sicher, dass es Diana nicht um die Dinge an sich ging. Alles was zählte, war Opposition.  Es war nicht wichtig, eine Meinung zu haben, es war wichtig, sie zu verfechten, und dabei nahm sie es billigend in Kauf dieselbe ständig zu wechseln. Das änderte sich auch während der Schwangerschaft nicht. Wenn er ihr vorschlug, aufgrund der ständigen Übelkeit auf den Kaffee zu verzichten, trank sie gleich mehrere Tassen. Wenn er ihr aber empfahl, welchen zu trinken, weil sie über Müdigkeit klagte, kochte sie Tee. Sie tat mit schöner Regelmäßigkeit genau das Gegenteil von dem, was er sagte. Das Kind kam drei Wochen zu früh. Es war ein Mädchen. Das kleine runzlige Gesicht wies ein Kinn auf, dessen Grübchen eindeutig zu Diana gehörte. Noch viel mehr Ähnlichkeit glaubte er dem Geschrei zu entnehmen, welches sie die nächsten Wochen und Monate Tag und Nacht begleitete. Als Tanja drei wurde, mietete Diana eine Wohnung im Prenzlauer Berg. Gedacht als Galerie, war sie zuerst nur stundenweise da. Im Laufe des nächsten Jahres verlagerte sich dies. Bis nur noch ihr Bett und einige ihrer Entwürfe übrig geblieben waren.

Georg bekam den Direktorenposten am Moskauer Institut für Biophysik und begegnete Svetlana. Sie entsprach in keiner Weise dem gängigen Schönheitstyp und doch verliebte er sich in sie und ihre hohen Wangenknochen. Während der nächsten fünf Jahre führten sie eine wunderbare erfüllende Fernbeziehung. Dann begann Svetlana immer mehr Zeit einzufordern.

Sie wollte mit ihm auf Ausstellungen gehen, ins Theater, zum Ballett und was noch viel schlimmer war: mit ihm verreisen. Ständig schmiedete sie irgendwelche Urlaubspläne. Und das obwohl sie wusste, dass Georg jeglicher Sinn für Zerstreuung fehlte. Er war glücklich, wenn er im Institut die Nacht zum Tage machen konnte, er kam morgens als Erster und ging abends als Letzter. An den Wochenenden arbeitete er von zu Hause, jegliche Freizeitbeschäftigung empfand er als unnütze Zeitverschwendung. Solange es in der Mikrobiologie Themenfelder gab, deren Erforschung ihm lohnenswert erschien, wollte, musste er daran arbeiten. Die Geschichte mit Svetlana eskalierte, als sie ihm ein Ultimatum stellte, wonach er sich binnen einer bestimmten Frist zu einer Übersiedlung nach Russland entscheiden sollte.

Danach schwor er den Frauen ab und  begann ein Einsiedlerdasein, dass er nur unterbrach, wenn er interessante  Forschungsaufträge  bekam. Ab und zu besuchte ihn seine Tochter.   

Seine letzte große Liebe fand er in einem Schaufenster auf den Champs-Elysees. Sie trug ein schreckliches, fliederfarbenes Kleid, hatte kurzes blondes Haar und dunkelgrüne Augen. Er ging in den Laden, um sie zu kaufen. Es gab ein langes Hin und Her, was in erster Linie an seinem schlechten Französisch lag. Der  Verkäufer  verlangte einen exorbitant hohen Preis, den er damit begründete, dass es sich um ein ganz besonderes Modell handele. Außerdem bestand er darauf, dass Georg das Kleid mit kaufte. Schließlich einigten sie sich, Georg erwarb Puppe samt Kleid und ließ sie an seine Berliner Adresse liefern. 

Das Paket stand bei seiner Rückkehr bereits in der Wohnung. Zuerst befreite er die Puppe von diesem schrecklichen Kleid und zog ihr Dianas alten Morgenrock über. Dann platzierte er sie vor seinem Schreibtisch.  Am nächsten Tag ging er einkaufen.

Sie brauchte  zu erst einmal  Unterwäsche und Negligés in verschiedenen Farben. Auch einen leichten schwingenden Rock mit Blumenmuster, einen weißen eleganten Hosenanzug und eine buntbestickte Folklorebluse  suchte er aus.  Dazu erwarb er eine weißblonde Perücke mit Pagenschnitt, eine mittelbraune Langhaarperücke und eine feuerrote.

Am Abend  präparierte er ihr Gesicht. Er modellierte ihr hohe Wangenknochen, kerbte ein Grübchen in ihr Kinn und brach ein Stück aus ihren wunderbar glatten Vorderzähnen, die er anschließend glatt feilte. Dann schminkte er sie. Zog ihr anschließend  rote Spitzenunterwäsche an und öffnete den Champagner, den er vom Dekan der Sorbonne  zum Abschied bekommen hatte. Er setzte ihr das Glas an die roten Lippen, bevor er selbst davon trank und taufte sie  als Symbiose seiner drei Exfrauen auf den Namen: Dilara.

Als er am nächsten Morgen sein Frühstück auf dem Balkon einnehmen wollte, fiel ihm ein, dass er nicht mehr allein war. Er holte Dilara aus dem Wohnzimmer. Sie saß ihm gegenüber und er konnte sich nicht satt sehen an ihrer Vollkommenheit.

Er las ihr aus der Zeitung vor. Sie unterbrach ihn nicht und hörte ihm interessiert  zu.    Als er sich an seine Forschungsarbeiten setzte, stand sie geduldig neben ihm und wartete bis, er Zeit für sie hatte. Seinen sechswöchigen Forschungsauftrag nach Brügge akzeptierte sie wortlos und wenn er abends später als geplant vom Institut zurückkehrte, entlockte ihr das lediglich ein nachsichtiges Lächeln.

Georg fühlte sich gut.  Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine erfüllende Beziehung. Doch dann ereigneten sich seltsame Dinge:

Es begann damit, dass er Dilara fragte, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er am Abend noch arbeitete, anstatt die Zeit mit ihr zu verbringen. Er hatte sie direkt gegenüber seines Schreibtischs platziert. Sie konnte ihm bei der Arbeit zusehen, oder, falls sie seines Anblicks überdrüßig wurde, aus dem Fenster schauen. Meist spürte er jedoch ihren Blick auf sich ruhen. Wenn er aufsah, was immer häufiger passierte, fand er es um vieles spannender in Dilaras Gesicht zu lesen als in den einschlägigen Fachbüchern. Zur Nacht zog er ihr ein Neglige an und bettete sie behutsam neben sich. Er schlief tief und fest in der Überzeugung eine Gefährtin für den Rest seiner Tage an seiner Seite zu haben. Mit der Zeit bereitete es ihm immer größeres Unbehagen Dilara tagsüber allein zu lassen, wenn er Vorlesungen gab. Kurzfristig entschied er deshalb den  Lehrstuhl an der Uni abzugeben.

 Als er einen  Forschungsauftrag nach Tokio bekam, sagte er ab und buchte stattdessen eine Suite auf einem Luxusliner zu einer Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer.

Er hatte sich zwei Wochen trauter Zweisamkeit vorgestellt: Mahlzeiten auf dem Zimmer, Sundowner auf dem Balkon, Spaziergänge an einsamen Stränden. Dilara hatte andere Vorstellungen. Sie wollte im Restaurant speisen, die Theatervorstellungen besuchen, auf Deck flanieren und spät abends in den Club. Wenn die Discokugel ihre Lichtreflexe auf die Tanzfläche warf, hielt es sie nicht länger neben ihm. Zuerst ungelenk, dann immer sicher werdender, bewegte sie Arme und Beine. Gab sich der Musik hin, verschmolz mit ihr. Schon bald hatte sich ein Kreis von Verehrern gebildet, der sie auch tagsüber an Deck und zu den Ausflügen umschwärmte. Profillose Gesichter, vor deren Gleichförmigkeit Georg sie warnte. Obwohl er sich der Harmlosigkeit  dieser Flirts bewusst war, blieb ein Hauch Zweifel, der zur schrecklichen Gewissheit wurde, als sie in Genua einliefen und das Bett neben ihm leer war. 

 

 

V2