Von Michael Kothe
»Perdona, ist der Platz noch frei?«
Mein Einverständnis scheint er vorauszusetzen, denn gerade bleibt mir Zeit, den Kopf zu heben, als sein Schatten auf meinen Teller fällt. Bevor ich nicken kann, hat er schon den Stuhl unter dem Tisch hervorgezogen und setzt sich mit einem Seufzer mir gegenüber.
»Que aproveche, guten Appetit«, wünscht er mir, als er seine Schultern an der Stuhllehne reibt. Wohl um die Verspannungen zu überwinden, die unweigerlich über einen kommen, wenn man stundenlang auf dem Bock sitzt. Man kann die Sitzhaltung ändern, aber allein die Konzentration lässt den Nacken und die Schultern steif werden. Er nimmt die Karte aus der Klammer, die seitlich am Serviettenspender angebracht ist, seine Augen folgen der Schrift von oben bis unten, bevor er die Karte zurückstellt und dann auf meinen Teller schaut.
»Sieht gut aus.«
»Schmeckt auch.« So weit mein Kommentar zum Tagesmenü für zwölf Euro. Wenn man deftige Hausmannskost bevorzugt und für einen guten Preis satt werden will, kehrt man in demjenigen Straßenrestaurant ein, vor dem die meisten Lastwagen stehen. Die fideos, eine fettige Nudelsuppe mit Speckeinlage, habe ich gegessen und sitze am zweiten Gang, einem großen Stück Meeräsche mit Salzkartoffeln und vier Blättern lechuga, dem grünen Salat, und zwei Tomatenscheiben.
»Lo mismo, das gleiche.« Damit kommt er der Frage der Bedienung zuvor, als sie an unseren Tisch tritt, und zeigt auf meinen Teller.
Unwillkürlich verziehe ich meine Lippen zu einem Schmunzeln, als ich ihn näher betrachte. Jeans, die sicherlich einmal bessere Tage gesehen haben, bevor Wagenschmiere und Dieselöl unauslöschliche Spuren hinterließen, das der trüben Jahreszeit angemessene Flanellhemd mit Karos und darüber die gefütterte Weste, ohne die ein camionero, ein LKW- und Fernfahrer, nicht das Haus verlässt. Ein Dreitagebart und graues, etwas verfilztes Haar runden das Bild ab. Auf um die fünfzig schätze ich ihn, also ist er in meinem Alter. Als er der Bedienung nicht mehr nachschaut, konzentriere ich meinen Blick wieder auf den Teller.
»Wo kommst du her?«, frage ich und blicke auf.
»Valencia«, kommt die knappe Antwort. »Orangen.« Er zuckt mit den Schultern. »Als ob es hier nicht genügend davon gäbe!«
»Wenigstens hast du Fracht.« Ich will ihm Mut machen, denn er hatte schon müde ausgesehen, als er seinen Pegaso auf dem Parkplatz ausrollen ließ. Seit wie vielen Jahren die Marke nicht mehr gebaut wird, wage ich nicht einmal zu schätzen.
Erstaunt blickt er mir in die Augen.
»Du nicht? So, wie du angezogen bist, musst du gute Aufträge haben. Gehört dir der rote Scania? Tolle Kiste. Deine Kabine ist doppelt so groß wie meine, die Koje wohl ebenso. Und du ziehst nicht an jeder Steigung eine schwarze Ölfahne hinter dir her wie ich. Aber, mmh, nur die Zugmaschine, kein Auflieger?«
Ich nicke.
»Du hast recht, es ist meiner. Und nein, keine Fracht. Nur ab und zu.«
Seine Suppe kommt, und zwischen seinem Löffeln und meinem Gabeln der tarta de Santiago, der für Galicien typischen trockenen Mandeltorte als Nachtisch, entspinnt sich ein munteres Gespräch. Über unsere letzten Touren, größere und kleinere Vorkommnisse auf unseren Wegen über die iberische Halbinsel, Erlebnisse mit der guardia civil de tráfico. Und natürlich über unsere Fahrzeuge.
»La cuenta, por favor«, bitte ich die Bedienung, als sie unseren Milchkaffee bringt. »Ja, zusammen«, beantworte ich ihren fragenden Blick.
Ich sehe über den Tisch zu Juan. Mittlerweile haben wir einander vorgestellt.
»Hast du es eilig?«
Wortlos schüttelt er den Kopf, ringt sich dann doch zu einer Antwort durch.
»Die Orangen habe ich abgeliefert und hänge den Rest der Woche daheim rum. Keine Fracht vor Montag, und auch die reicht kaum für mehr als den Diesel.« Er stemmt die Ellbogen auf den Tisch und bettet sein Kinn auf die gefalteten Hände. »Für uns autónomos, die Kleinunternehmer, gibt’s immer weniger Touren. Die großen Spediteure schnappen alle lukrativen Aufträge weg. Andererseits freue ich mich auf die Zeit mit meiner Frau und unseren vier Kindern. Spielen mit den Kindern, zusammen oder mit dem Hund spazieren gehen, im Garten arbeiten … Am Haus gibt es auch immer etwas zu tun. Klingt kitschig, aber ich mag dieses Leben. Jede Trennung schmerzt mich aufs Neue. – Danke für das Essen und den Kaffee!«
»War mir ein Vergnügen. Dir danke ich für deine Gesellschaft und das Gespräch. Meistens sitze ich allein am Tisch. Zwischen all den einsamen Stunden am Lenkrad, aber ich komme viel rum, habe Spanien bestens kennengelernt. Doch irgendwie sehne ich mich nach einem gemütlichen Zuhause. So wie du es hast.«
»Hast du’s nicht? Du trägst ’nen Ehering. Hast gute Klamotten, einen tollen Truck. Eigentlich muss es dir doch gut gehen.«
Mit großen Augen sieht er mir ins Gesicht. Prüfend, eine Antwort herausfordernd, wie mir scheint.
Mein Grinsen ist ebenso verlegen wie breit.
»Sollte es. Aber nun ringst du mir eine Lebensbeichte ab. Daheim stimmt es nicht mehr. Habe mich mein Leben lang abgerackert als albañil, als Bauarbeiter. Zum Leidwesen meiner Frau, die in mir nur den Versager sieht, der jeden Vergleich mit ihren Brüdern scheuen muss. Der nicht Anwalt ist oder der kein gutgehendes Geschäft hat und mit seiner Familie mehrmals im Jahr in Urlaub fährt. Aber meinen Lohn hat sie stets bis auf den letzten Cent ausgegeben. Mir blieb selten Geld für ein Bier oder für Zigaretten. Und so lasse ich sie in dem Glauben, der Scania gehöre einem Halsabschneider von Spediteur, der mir einen Hungerlohn bezahlt und mich von einem Ort zum anderen hetzt. Drei- bis viermal die Woche rufe ich sie von den Hotels aus an, bin jedes zweite oder dritte Wochenende daheim. Öfter ertrage ich die Xanthippe nicht, denn auch dann hat sie immer etwas an mir auszusetzen. So verstecke ich mich auf der Straße. Dass ich in der Lotterie gewonnen, vom Gewinn den Laster gekauft und noch reichlich Geld übrig habe, soll sie nie erfahren. Zwar sehne ich mich nach Harmonie, aber ich freue mich über meine Freiheit.«
Betreten schweige ich. Erzählt hatte ich das alles bisher niemandem. Unerwartet werden meine Augen feucht. Belüge ich mich etwa seit Jahren? Bin wirklich nur ich das Opfer? Ich ziehe die Nase hoch.
»Ich denke, ich fahre erst mal heim und rede mit ihr über alles.«
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