Von Franck Sezelli

Der Sonnenaufgang über dem Meer war ein überwältigender Anblick. Als Langschläfer gönnen wir uns dieses Naturereignis viel zu selten, obwohl Elisabeth und ich direkt am Meer leben. Da wir nun schon mal draußen waren, hatten wir keine Lust, sofort wieder nach Hause zu gehen, sondern entschlossen uns zu einer Strandwanderung.

Schon bald erreichten wir eine der kleinen Buchten, die unter unserer Steilküste liegen. Um dahinzukommen, mussten wir auch über eine Reihe sonst meist vom Wasser überspülter Steine klettern. Nach dem mehrere Tage andauernden Sturm mit meterhohen Wellen lag das Meer aber heute morgen erstaunlich ruhig da, fast spiegelglatt, sodass uns die Kletterei am Ufer gut gelang.

»Was liegt denn dort vorn, ein toter Fisch – oder was ist das?« Meine Frau zeigte ans Ende der Bucht. Dort fanden wir einen dunkelgrünen Gegenstand, der an eine Flasche erinnerte. Nachdem wir uns davon überzeugt hatten, dass es sich wohl nicht um eine Mine aus dem Zweiten Weltkrieg handelte, weil das Ding offenbar aus Glas war, hob ich es auf.  Die Vorsicht war sicher angebracht, weil sich über uns auf der Steilküste damals Stellungen der deutschen Wehrmacht befunden hatten.

Die bauchige Glasflasche wog schwer in der Hand. Ihre Form war nicht völlig gleichmäßig, wirkte handgemacht, das Glas war durchsetzt von vielen Blasen. Der Flaschenhals war ummantelt mit hartem schmutzig-rotem Siegellack.

»Das sieht aber sehr alt aus«, meinte Elisabeth. »Ein Wunder, dass die Flasche bei dem Wellengang in der Nacht hier an den Felsen nicht zerbrochen ist.«

»Sie muss erst spät aus der Tiefe hochgespült und dann auf den Sand geworfen worden sein. Schau mal, ob was drin ist!«

Durch das sehr dunkle Glas konnte man etwas Längliches erkennen. Es bewegte sich beim Schütteln der Flasche.

»Die nehmen wir mit nach Hause und untersuchen sie vorsichtig dort, ehe sie uns hier noch kaputt geht«, verkündete meine Liebste ihren vernünftigen Entschluss.

 

Mit der Versiegelung am Flaschenhals hatten wir die größten Probleme, obwohl sie an einigen Stellen schon etwas porös aussah. Aber als ich sie mit einer Rohrzange vorsichtig drückte, splitterte sie und ließ sich ablösen.

»Halt!«, rief da Elisabeth, »vielleicht ist das ein wertvoller seltener Fund, wir sollten den Zustand erst fotografieren, ehe wir weitermachen.«

Das habe ich dann natürlich bei jedem der folgenden Schritte gemacht. Wenn es meine Frau sagt …

Im Flaschenhals steckte ein Korken, der sich mit unserem bewährten Korkenzieher gut entfernen ließ. Durch den Flaschenhals erkannten wir eine Papierrolle.

»Eine echte Flaschenpost!«, rief ich gespannt aus. »Das ist ja richtig aufregend!«

»Wer weiß?«, meinte Elisabeth skeptisch. »Vielleicht irgendein Kinderspiel …«

»Aber doch nicht mit einer solch altertümlichen Flasche!«, entgegnete ich. »Hol doch das Papier mal raus!«

Elisabeth drehte mit einer Pinzette und viel Geschick die Rolle enger, sodass sie dann ohne Schaden herausgezogen werden konnte.

Nun lag ein Blatt gelbliches, grobes Papier vor uns. Es war mit blauer Tinte beschrieben, aber an vielen Stellen waren Wasserflecken, wo die Buchstaben verlaufen waren und kaum oder gar nicht mehr zu erkennen waren.

»Mist, da ist Wasser eingedrungen. aber einen Teil kann man noch lesen.«

Meine Frau bestätigte: »Ja, hier, da steht ganz deutlich: Vive le roi, ›Es lebe der König‹, das ist also französisch wie nicht anders zu erwarten.«

Wir versuchten gemeinsam, die Schrift zu entziffern. Das kam dabei heraus:

»A baix la dictadura des consuls ! Pour un accès libre a la ciutat, pour liberté de treball! Vive le roi  (verwischt)xx xxxx royal diví!

Aidez’ns! A Perpinyà, s’ha creat un „consell“ per imposar mesures restrictive en dehors de l’ordre xxxxxx S’ha creat un „office de santé“ per supervisar tots els ciutadans. Les portes de la ciutat sont fermées [unleserlich] entrer amb un bitllet sanitari.

Sóc enrajolador xx xxxx xxxxx xx (unleserlich) ciutat. Els soldats m’impedixen de faire mon travail a la ciutat, [unleserlich]. Per tant, ma femme et mes enfants meurent de faim. [Große Wasserflecke – unleserlich] els comerciants de la ciutat no tenen res més a vendre.

[Wasserflecke] Lx xxx sempre xx mort: – c’est la volonté de Dieu !

[vier bis fünf  Zeilen total unleserlich] les gens no pot comprar, travailler et mourir de faim !

[großer Absatz unleserlich, endet mit:] A la forca amb l’assessorament il·legal i el office  de santé !                                                                     Perpinya, el 20 d’octubre 1721 «

»Nein, das ist kein Französisch! Nur einzelne Worte oder Satzteile, gemischt mit einer anderen Sprache.« Elisabeth schaute mich ratlos an.

»Hier steht 1721. Wenn das stimmt, ist dieses Papier 300 Jahre alt! Da sah das Französisch sicher auch noch anders aus. Oder das ist Okzitanisch, das wurde doch hier gesprochen, ehe die Zentralmacht das Französische auch hier im Süden durchgesetzt hatte.«

»300 Jahre! Wahnsinn! Das können wir nicht einfach behalten. Übrigens steht dort Perpinya, der katalanische Name von Perpignan. Dann ist das in katalanisch geschrieben.« Elisabeth schien sich fast sicher.

»Wenn, dann mit Französisch gemischt. Wer weiß, wer das verfasst hat? Wir müssen das einem Fachmann zeigen!« Ich überlegte laut. »Für Historisches ist doch hier im Ort Jacques Hiron der Fachmann, als Autor einiger Bücher über die Geschichte des Ortes und der Gegend.«

»Du meinst, wir können den alten Mann damit belästigen?«

»Ich glaube, er würde sich darüber freuen. Wir haben ihn doch bei einem seiner Vorträge als netten Mann kennengelernt.«

 

Der grauhaarige Schriftsteller war tatsächlich sehr interessiert. Er bestätigte unsere Vermutung, dass die Wörter teils katalanisch, teils französisch waren, keinesfalls okzitanisch. In der Übersetzung kam er so weit, wie wir auch schon gekommen waren. In dem Schreiben, das offenbar einen Hilferuf darstellt, wird von einem Gesundheitsamt, von geschlossenen Stadttoren und Hunger gesprochen. Da könnte es um die Pest in Perpignan gehen, die ein Jahr nach der großen Pest in Marseille von 1720 ausgebrochen ist. Damals gab es sehr einschränkende Maßnahmen, Ausgangssperre und Reiseverbote in der ganzen Provence. Man spricht von 50000 Toten.

 Eine Erklärung für die seltsame Mischsprache, meinte Monsieur Hiron, könnte ein Edikt Ludwigs XIV. aus dem Jahr 1700 sein, das den Gebrauch der katalanischen Sprache als der ursprünglichen Sprache des Roussillons verbot. So schnell konnte sich natürlich nicht die französische Sprache im Alltag durchsetzen.

Jacques Hiron empfahl uns, mit dem Fund eine offizielle Stelle in Perpignan, der Hauptstadt des Roussillons, aufzusuchen.

Das Katalanische Museum der Volkskunst und des Brauchtums, das im Castillet von Perpignan, dem einstigen Stadttor und Festungsturm und heutigen Wahrzeichen der Stadt untergebracht ist, empfanden wir als die richtige Anlaufstelle. Als wir unser Anliegen vorbrachten, wurden wir sehr schnell vom Direktor empfangen, der einen Restaurator rufen ließ. Dieser war hochinteressiert und versprach, die Echtheit zu prüfen und uns über das Ergebnis zu informieren.

 

Nach einigen Wochen erhielten wir vom Direktor eine Einladung in sein Museum. Voller Freude teilte er uns mit, dass die Flasche und das Schreiben mit wissenschaftlichen Methoden überprüft wurde und ihr Alter von 300 Jahren bestätigt werden konnte. Es konnten auch die bei oberflächlicher Sichtweise unleserlichen Stellen alle restauriert und entziffert werden.

Wir freuten uns sehr darüber und fragten, ob wir unseren Fund zurückhaben konnten. Da musste der Direktor uns aber enttäuschen. Das sei wie bei archäologischen Funden. Sie gehören dem Staat. Dieser sei uns aber sehr dankbar. Als Ausdruck dessen bekamen wir eine Mappe mit dem Wortlaut des restaurierten Textes in der französisch-katalanischen Mischsprache des Originals und der entsprechenden vollständigen französischen Übersetzung. Zusätzlich erhielten wir das Recht auf lebenslangen freien Eintritt in alle staatlichen Museen des ganzen Départements.

Sehr neugierig übersetzten wir zu Hause den Text aus dem Französischen ins Deutsche:

»Nieder mit der Diktatur der Konsuln! Für freien Zugang zur Stadt, für Freiheit der Arbeit! Es lebe der König und die gottgewollte königliche Ordnung!

Helft uns! In Perpignan hat sich ein „Rat“ konstituiert, der abseits der königlichen Ordnung der Stadt einschränkende Maßnahmen aufzwingt. Ein „Gesundheitsamt“ ist gebildet worden, das alle Bürger kontrollieren will. Die Tore der Stadt sind geschlossen und man darf sie nur mit einem Gesundheitsticket betreten. Ich bin Fliesenleger und wohne außerhalb der Stadtmauern. Soldaten verhindern, dass ich meine Arbeit in der Stadt machen kann, wo viele Aufträge von Bürgern auf mich warten. Meine Frau und die Kinder müssen deshalb hungern. Händler aus dem Languedoc werden mit ihren Waren   im Bauernhaus La Garrigue hinter dem Fluss Agly, auf halbem Weg zwischen Salses und Perpignan aufgehalten. Die Krämer in der Stadt haben deshalb nichts mehr zu verkaufen.
Und das alles nur, weil es im vorigen Jahr im fernen Marseille ein paar Ratten mehr gab und Leute Schwellungen und Ausschlag bekommen haben und manche auch gestorben sind. Menschen sterben schon immer – das ist Gottes Wille! Man will unter dem Vorwand einer angeblich schlimmen Krankheit die Leute schikanieren und eine Diktatur errichten. Die Einschränkungen sind schlimmer als die Krankheit, denn die Leute können nicht einkaufen, nicht arbeiten, sterben vor Hunger!

Ich werfe diesen Hilferuf in den Têt. Informiert die königlichen Behörden von dieser Willkür! Helft, dass die Maßnahmen aufgehoben werden und wir wieder frei arbeiten und leben können. An den Galgen mit dem illegalen Rat und dem Gesundheitsamt!

Perpignan, 20. Oktober 1721«

 

Elisabeth sprach dann das aus, was wir beide dachten: »Das soll 300 Jahre alt sein?«

 

 

 

 

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