Von Anna Deichmann

Nervös spielte sie mit den Fingern ihrer linken Hand an dem kleinen Anhänger der Goldkette, die um ihren Hals lag. Sie holte tief Luft.

„Am Anfang ist es ein bisschen so, als würde man Post bekommen.

Wisst ihr … wenn ihr die Briefe aus dem Briefkasten holt und auf einem davon euer Name steht. Und ihr seht am Umschlag schon, dass es keine Werbung ist, keine Rechnung, keine Erinnerung eurer Bank, dass euer Schülerkonto jetzt bald abläuft. Und dann geht ihr mit dem Brief in eurer Hand wieder ins Haus zurück, in Gedanken schon bei dem Moment, in dem ihr ihn gleich öffnen und sorgfältig aus dem Umschlag ziehen werdet. So ein Gefühl ist das am Anfang. Ein sehr … schönes.

Und später … nach ein paar Monaten, oder vielleicht auch nur Wochen … ist es, als würdet ihr den Brief endlich lesen. Eine persönliche Anrede, in Handschrift – jemand kümmert sich um euch. Erzählt Geschichten aus seinem Leben und stellt Fragen über eures. Ihr habt aber gar nicht viel zu berichten … weil es nicht bei dem einen Brief bleibt, und ihr immer mehr zu lesen bekommt. Erst kommt ein Brief täglich. Dann einer morgens und einer abends. Dann den ganzen Tag lang, einer nach dem anderen. Pausenlos.

Und irgendwann fühlt es sich so an, als würdet ihr in Briefen ertrinken. Ihr öffnet den Umschlag nicht mehr mit Vorsicht, sondern zerreißt ihn grob, werft ihn achtlos in eine Ecke, in der sich der Müll schon auftürmt. Wenn ihr den gerade geöffneten Brief noch gar nicht zu Ende gelesen habt, kommt da schon der nächste. Und er liegt nicht einfach stumm im Briefkasten, nein, der Postbote bringt ihn persönlich, er klingelt immer und immer wieder an eurer Tür, der schrille Ton durchbohrt euch förmlich das Hirn, und er hört erst mit dem bohrenden Klingeln auf, wenn ihr zur Tür geht und den Brief annehmt. Der Postbote lächelt euch an und ihr hasst ihn, ihr hasst auch die Briefe, und ganz besonders hasst ihr diesen Unbekannten, der sie schreibt. Aber aufhören zu lesen könnt ihr trotzdem nicht … das verlernt man nicht mehr. Ihr lechzt viel zu sehr nach dem Gefühl, jemand würde euch schreiben, jemand opfere euch seine Zeit, weil ihr ihm so wichtig wärt. Und ihr vergesst bei alldem vollkommen, dass eigentlich ihr dieser Jemand sein solltet. Dass ihr auf euch selbst aufpassen solltet, weil das ein Brief nicht für euch erledigen kann. Aber ihr vergesst euch selbst und den Rest der Welt gleich mit und lest und lest und lest. Geschichte um Geschichte lest ihr, obwohl ihr längst kein Wort mehr versteht. Eure Sicht ist verschwommen und ihr schwitzt und zittert, der Gang zur Haustür wird immer beschwerlicher, aber die Aussicht auf einen neuen Brief ist Motivation genug.

So geht das immer und immer weiter … bis man dann irgendwann hier sitzt. So wie ich jetzt. Und dann merkt man, dass die Hoffnung, hier vielleicht verstanden zu werden, umsonst war. Weil man nämlich viel zu verkorkst ist, um von irgendjemandem verstanden zu werden. Ich … ich sehe ja in euren Gesichtern, was ihr denkt. Ihr kennt euch aus mit Traurigkeit und Hunger, mit Einsamkeit und zu viel Sport, mit Pillen und therapeutischen Anamnese-Bögen. Aber mit meinen Flaschen müsste ich in eine Gruppe bierbäuchiger 40-Jähriger gehen, die mit dem Leben schon abgeschlossen haben. Das ist kein Problem, das Teenager in der Abschlussklasse haben.“

Sie sah in die Runde aus etwa gleichaltrigen Mädchen – zwei Jungen saßen auch dabei, in sich zusammengesunken und unscheinbar – und sah in deren betretener Art, den Augenkontakt zu vermeiden, dass sie recht hatte. Niemand hier verstand, wovon sie sprach. Der Gruppenleiter, Ende 40, mit Klemmbrett und Kugelschreiber auf dem Schoß, sah sie entschuldigend an. Darauf war er nicht spezialisiert, er hatte sie ja vorgewarnt, als sie nach einem Probetermin in der Selbsthilfegruppe für Jugendliche gefragt hatte.

„Ist schon okay“, sagte sie und stand auf – der Gedanke an die noch volle Vodka-Flasche unter ihrem Bett beruhigte sie, noch bevor sie viel Enttäuschung spüren konnte. Sie konnte es nicht erwarten, sie hervorzuholen, das Knacken beim Öffnen des Schreibverschlusses würde sich anfühlen, wie … naja, wie den Briefkasten aufzuschließen eben. Sie war eigentlich stolz auf ihr Bild gewesen. Dachte, das müsste ja jeder verstehen – es war, wie Post zu bekommen, nur eben in Flaschen.

„Danke trotzdem“, verabschiedete sie sich und wandte sich zum Gehen. In ihrem Kopf das Türklingeln, die vielen Geschichten, die sie zu Hause erwarten würden.

„Ich–“, begann plötzlich ein schlaksiger blonder Junge aus der Runde und hob den Blick, „Ich weiß, was du meinst. Ich hab sie auch lange bekommen, die Flaschenpost. Und du hast recht, das Lesen kann man nicht verlernen. Aber man muss die Briefe nicht öffnen, du kannst sie liegen lassen und den Briefträger ignorieren. Es ist am Anfang ganz schön schwer, aber … irgendwann geht es.“

Flaschenpost … sie lächelte vorsichtig. Dann setzte sie sich zurück auf ihren Stuhl und richtete den kleinen Anhänger der Goldkette, die um ihren Hals lag.