Von Regina Wolf-Egger

  1. September 2008

Ein trüber Morgen leitete den letzten Urlaubstag des Professors ein. Tief hingen die Wolken über dem Meer, fast so wie in einem Bild von Emil Nolde. Eine steife Brise zerstreute die gellenden Schreie der Möwen, die unaufhörlich ihre Kreise über Land und Wasser zogen.

Aber Paul Kaschintzky, Professor für südosteuropäische Geschichte an der Universität Graz, ließ sich dennoch nicht davon abhalten, einen letzten Spaziergang am Meer zu unternehmen, bevor ihn das Taxi zurück nach Hamburg, und von dort das Flugzeug in die Heimat bringen würde.

Die vergangenen beiden Wochen hatte er hier an der Ostsee seine Ferien verbracht und in der einsamen Kate, die er zu diesem Zweck gemietet hatte, an seinem Vortrag gearbeitet. Im November sollte ein Kongress in Graz über die Bühne gehen und er, der Experte für den Großen Nordischen Krieg, in dessen Folge Russland zur europäischen Großmacht aufstieg, würde ein viel beachtetes Referat halten. 

So hoffte er zumindest, hatte er doch die letzten drei Jahre fast ausschließlich der Vormachtstellung Russlands im 18. und 19. Jahrhundert gewidmet und war schließlich sogar seine Ehe daran zerbrochen. Seine Exfrau Norma und die gemeinsame Tochter Trine waren bereits seit einem Jahr aus der ehrwürdigen Villa in Mariatrost ausgezogen und wohnten jetzt in einem schicken Bungalow am Stadtrand, den er größtenteils finanzierte.

Aber auch wenn die Ehe des Professors an seinem Karrierestreben gescheitert war, oder gerade weil sich dies so verhielt, war Paul Kaschintzky um ein gutes Verhältnis zu seiner fünfjährigen Tochter bemüht. Und eben deshalb schritt er jetzt besonders langsam den Strand ab, und hielt mit Argusaugen Ausschau nach Muscheln, Steinen und abgeschliffenen Glasscherben, die er Trine als Mitbringsel versprochen hatte.

So kam es denn auch, dass er zwischen Seetang und Strandgut versteckt eine alte Flasche entdeckte. 

Bei näherer Untersuchung in seiner Kate erkannte er das Siegel Zar Peters des Großen.

Nun war die Entdeckerfreude des Professors nicht mehr zu bremsen, er zerbrach das Petschaft und entnahm mit äußerster Vorsicht dem Inneren ein zeithistorisches Dokument von hoher Sprengkraft: eine Depesche des Zaren an den schwedischen König samt Karte Europas. Der Himmel allein wusste, warum man dafür eine so riskante Zustellmethode wie die Flaschenpost gewählt hatte. Aber – so mutmaßte der Professor – es könnte sich auch um eine Art Sicherheitskopie gehandelt haben, falls der Kurier als Überbringer des eigentlichen Schreibens, sein Ziel nicht erreichen würde. Es war eine turbulente Zeit, dieses 18. Jahrhundert. 

Inhaltlich war klar, worum es sich handelte: die Depesche war in Vorbereitung des 1721 geschlossenen Frieden von Nystad an den unterlegenen Monarchen gesandt worden und enthielt bereits mehr als 70 Jahre vor dem eigentlichen Ereignis, den Plan für die Aufteilung Polens, die das Land schließlich 1795 gänzlich von der Landkarte verschwinden ließ.
Kaschintzky wusste, dass er mit diesem Fund eine Revolution in der Geschichtswissenschaft auslösen würde, und der plötzliche Samenerguss, der nun die Innenseite seiner seidenen Boxershorts befeuchtete, war ihm wie eine Bestätigung.

Diese Entdeckung galt es für den bevorstehenden Kongress auszuschlachten, ja er plante, damit erst im November an die Öffentlichkeit zu gehen. 

Was für ein Glück, dass gerade ihm dieser Fund zugefallen war, es war beinah wie ein Zeichen, konnte doch er wie kein anderer den Wert dieses Fundstücks auch erkennen.

  1. Oktober 1990

Achtzehn Jahre zuvor brach nahe der rumänischen Stadt Oradea ein ebenso trüber Morgen an. Am Eingang des alten Jagdschlosses Cighid, das schon seit Jahren als Kinderheim diente, wurde in der kalten Nebelluft ein kleines Bündel niedergelegt.

Stumm und reglos verweilte es da eine Zeitlang, bis die Kinderschwester Zsófia ihren Dienst beendet hatte und vor die Tür trat. Fast wäre sie gestolpert, doch dann hob sie das Fundstück auf und – wie der Professor – erkannte auch sie auf Anhieb seinen Wert, denn das Baby schlug die Augen auf und schaute sie an. Und da war ihr, als hielte sie den kleinen Bruder László in ihren Armen, der mit sechs Monaten plötzlich verstorben war. 

Zsófia steckte das Baby unter ihren Mantel, ging zurück ins Haus und meldete den Fund. Und weil die dunklen Augen des Babys sie an den Bruder erinnerten, nannte sie den kleinen Buben liebevoll Lacika.

In dieser Woche war Lacika schon Baby Nummer drei, das auf den Stufen des Kinderheims abgelegt worden war. Und so wie die anderen fand auch er Aufnahme im alten Jagdschloss und stand die ersten Jahre unter der besonderen Obhut von Kinderschwester Zsófia.

Irgendwann aber verließ sie ihre Arbeitsstelle, weil sie die tristen Verhältnisse, unter denen die Kinder ihr Dasein fristen mussten, nicht mehr aushielt. Als Angehörige der ungarischen Minderheit fand sie ihre neue Heimat in Ungarn. 

Lacika aber war fortan sich selbst überlassen. Er wurde hierhin und dorthin geworfen, bis er schließlich eine Familie fand. Da war er bereits ganz in den Osten Rumäniens gezogen und weil man dort seinen ungarischen Spitznamen Lacika nicht so recht aussprechen konnte, nannte man ihn kurzerhand Laziko.

  1. Oktober 2008

 

Es war ein Freitag, als Laziko mit seinem moldawischen Freund Mihail spät nachmittags am Grazer Hauptbahnhof ankam. Ausnahmsweise war es kein trüber Tag. Die Sonne schien vielmehr freundlich vom Himmel und blendete die beiden, als sie hinter den vielen, dunkel gekleideten Frauen mit ihren großen Plastiktaschen aus dem Fahrzeug stiegen.

Was Laziko sofort auffiel, war, dass es hier ganz anders roch als in Iasi, jener rumänischen Stadt nahe der moldawischen Grenze, aus der sie gekommen waren. Da war ein Duft nach Oregano und Tomaten aus einer nahegelegenen Pizzeria, der sich mit der Zitrusnote des teuren Parfums einer vorübereilenden Dame und mit dem Zigarettenrauch einiger junger Leute verband. Und wie die helle Sonne war auch diese Mischung licht und freundlich und hatte etwas von der Ausgelassenheit und Unbeschwertheit der Menschen, die sich vor dem Bahnhofsgebäude unterhielten und lachten.

„Hey, Laziko, du Trottel!“, begrüßte ihn Bogdan und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf, dass es in seinem Schädel nur so wummerte.

Bogdan war ihr Anführer. Zusammen mit den zwei Österreichern Kevin und Sammy, die beide Zahnstocher kauend neben dem Wartehäuschen lümmelten, würden sie hier in Graz auf Raubzug gehen. Ihre Sporen hatten sie sich schon in Bukarest und am bulgarischen Goldstrand verdient. Den ganzen Sommer über hatten sie reiche Urlauber um ihre Besitztümer erleichtert, aber jetzt im Herbst herrschte dort Flaute und so wich die Bande nach Wien und Graz aus, um sich in den Villen der betuchten Österreicher zu bedienen. Eigentlich waren alle fünf kleine Fische, die sich mit Diebstählen über Wasser hielten, aber sie waren auch Teil einer größeren Organisation, deren Köpfe sie nicht kannten, die ihnen aber Heimat war. 

„Heute Abend steigt der Coup. Gleich zwei Villen auf einmal“. Bogdan schnalzte mit der Zunge und gab den anderen ein Zeichen, ihm zum Frachtenbahnhof zu folgen. Dort, abseits des emsigen Treibens, instruierte er sie über den geplanten Raubzug.

Laziko versuchte sich alles gut einzuprägen. Die Villa war gelb, der Besitzer am Morgen mit dem Rettungswagen weggefahren worden, der Garten nicht einsehbar von der Straße, die Alarmanlage war schon ausgeschaltet. Straße und Hausnummer speicherte er als Telefonnummer im Handy ab. Es konnte also faktisch gar nichts schief gehen.

 

Und es ging auch nichts schief. Mihail und Laziko drangen über ein gekipptes Kellerfenster in die Villa ein. Während Mihail sich das Vorzimmer und die Küche vornahm und gleich ein paar Hunderteuroscheine aus einer Keksdose fischte, ging Laziko im Arbeitszimmer und im Wohnzimmer auf Suche. Bis auf den Laptop und einen Siegelring konnte er zunächst nichts Wertvolles finden. Der Mann lebte allein, Schmuck hatte er keinen und von Bargeld fehlte im Arbeitszimmer und Wohnzimmer auch jede Spur. In einer Vitrine fand Laziko schließlich noch eine Schatulle mit Goldmünzen und eine Flasche. Die sah alt aus, vielleicht war sie wertvoll und so wanderte sie mit den anderen Beutestücken in Lazikos Tasche.

In nicht einmal zwanzig Minuten war der Spuk vorbei.

Bogdan holte die beiden mit dem alten Benz an der Hauptstraße ab, las dann auch noch weiter stadteinwärts Kev und Sammy auf und fuhr unter Einhaltung aller Geschwindigkeitsbeschränkungen in Richtung Griesplatz weiter. Von dort wollte er über die Triesterstraße stadtauswärts auf die Autobahn gelangen.

Neugierig kramte Sammy in Lazikos Beutel, um nachzusehen was das „Kücken“ der Bande, das alle für ein wenig zurückgeblieben hielten, eingesammelt hatte. Verwundert zog er die alte Flasche hervor. Er hielt sie Bogdan vor die Nase. 

„Da schau, was dieser Trottel mitgenommen hat? Eine alte Flasche!“ 

„So eine Flasche!“, gluckste Kevin.

Und alle lachten lauthals. Bogdan öffnete das Fenster und weil sie soeben auf der Radetzkybrücke den Fluss überquerten, rief er: „Schmeiß sie raus! Wir sind ja kein Altglascontainer!“

Und so landete das wertvolle Fundstück in den Fluten der Mur.

  1. November 2020

Dieser erste Sonntag im November war ein dunkler Tag. Es fielen sogar schon Schneeflocken aus einem grauen Himmel. Für den Flusskrebs, der unterhalb der Murecker Schiffsmühle im Fluss Mur sein Dasein fristete, war es allerdings ein Festtag. Denn zwischen ein paar riesigen abgeschliffenen Steinen am Grund des Flusses war eine abgebrochene Flasche hängengeblieben. Das wertvolle Dokument, das sie einst beherbergt hatte, war im Wasser längst in einen anderen Aggregatszustand verwandelt worden. Jedoch verformt und beschädigt wie die Flasche jetzt war, erkannte der kleine Krebs den Wert des Fundstücks auf Anhieb und wählte sie als seine neue Behausung.

 

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