Von Peter Burkhard

Punkt acht Uhr hatten die beiden ihren Hilfsdienst bei Pierres Eltern angetreten und gerade mal zwei Stunden später war ein Großteil der Wohnung geräumt und das Mobiliar verladen. Die Männer der Umzugsfirma waren bereits mit der ersten Fuhre unterwegs zur neuen Bleibe in der Alterssiedlung Horn. Derweil bemühten sich Jana und Pierre um Bilder, Lampen und einige kleinere, teils antike Möbelstücke.
„Chéri, sollen wir die Schubladen dieses Sekretärs leeren, damit nichts herausfällt?“
Janas Ehemann stieg schwerfällig von der Klappleiter. „Ich mach das, hänge du bitte schon mal die restlichen Bilder ab.“
Die schräge Front des alten Möbels ließ sich herunterklappen und diente als Schreibfläche. Dahinter versteckten sich sechs kleine Schubladen, aus denen Pierre ein paar verstaubte Gegenstände hervorkramte. Es kam vieles ans Tageslicht, was er kaum beachtete, darunter aber auch die eine oder andere Trouvaille, die Erinnerungen an seine Kindheit wachrief.
Der vierten Schublade entnahm er eine schlanke, in einen Stofflappen gewickelte braune Flasche. Er erkannte das gläserne Objekt sofort. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde ihm schwindlig, aber er hielt sich aufrecht und griff sich an den Kopf: Das war seine Flaschenpost.
Pierre betrachtete das Ding von allen Seiten, es bestand kein Zweifel. Dies war die Buddel, von der sein Vater behauptet hatte, dass er sie vor fünfzig Jahren in einen Fluss geworfen hätte. Am gläsernen Hals klebten noch winzige Reste eines roten Wachses. Den unwiderlegbaren Beweis aber fand Pierre auf dem Flaschenboden, in den er damals mit einem Taschenmesser ein großes X geritzt hatte.
Wie war das möglich? Dieser Behälter sollte doch schon vor Jahren am Strand eines Meeres angeschwemmt oder in den Netzen eines Hochseefischers hängen geblieben sein, stattdessen lag er in einer Schublade dieses Sekretärs.
Es schauderte ihn beim bloßen Gedanken, dass ihn sein Vater damals belogen hatte.
„Jana, wo bist du?“
Die Gesuchte hantierte im Nebenzimmer: „Hier bin ich, bin gleich fertig“, sie lehnte ein Bild mit zwei sich streitenden Möwen an eine Bananenschachtel und blickte erstaunt auf, als Pierre mit einer kleinen Flasche in der Hand und Tränen in den Augen ins Zimmer trat.

* * *

„Pierre, sprich nicht mit vollem Mund, wie oft muss ich dir dies noch sagen?“
„Ich will euch ja bloß erzählen, worüber wir heute Morgen in der Schule geredet haben!“ Der Junge würgte seinen Bissen hinunter und schilderte begeistert eine Geografie-Stunde, in welcher der Lehrer über die großen Flüsse des Landes und ihren Weg zum Meer berichtet hatte. „Habt ihr gewusst, dass alles Wasser, welches bei uns in den Bächen und Flüssen zusammenfließt, in drei verschiedene Meere strömt?“
Natürlich wussten dies seine Eltern, dazu noch einige Details mehr und es entspann sich trotz der angemahnten Verhaltensregeln eine lebhafte Unterhaltung am Tisch.
„Weißt du, Papa, ich möchte so gern einmal am Meer stehen, mit meinen Füßen in den Wellen und dorthin blicken, wo der Himmel ans Wasser reicht. So hat es uns der Lehrer erzählt.“
„Das würden wir alle gern, aber da müssen wir uns wohl noch etwas gedulden“, meinte der Vater. Er wirkte bedrückt und leerte schweigend seinen Teller, damit schien das Thema erledigt zu sein.

Doch am Abend des folgenden Tages riefen die Eltern ihren Sohn ins Wohnzimmer.
„Papa will dir einen Vorschlag machen“. Die Mutter platzte schier vor Freude über das, was der Vater zu sagen hatte.
„Wir haben gemerkt, dass es dir eine Herzensangelegenheit wäre, einmal ans Meer zu gelangen, um zu erleben, wie die Sonne hinter dem Horizont versinkt. Auch wir würden dies gern erleben, aber aus vielerlei Gründen ist es uns zurzeit einfach nicht möglich. Aber ich mache dir folgenden Vorschlag: Du darfst eine Flasche mit einer Nachricht in einen Fluss werfen, man nennt dies eine Flaschenpost. Solltest du je eine Antwort auf deine Notiz erhalten, werden wir mit dir ins Land des Absenders reisen und dort ans große Wasser fahren. Versprochen!“
An den folgenden Tagen bemalte Pierre mit großer Begeisterung zwei Blatt Papier: den ersten mit schneebedeckten Bergen und Kühen auf grüner Weide an einem See. Auf dem zweiten zeichnete er ebenso so sorgfältig winkende Kinder unter einer flatternden Fahne mit weißem Kreuz auf rotem Grund. Auf die Rückseite der Werke schrieb die Mutter mit Druckbuchstaben eine kurze Grußbotschaft sowie Pierres Namen und Adresse. Dann stopfte sie die zusammengerollten Papiere in eine schlanke, braune Bierflasche und gab diese ihrem Mann, der sie mit einem Korken verschloss und mit rotem Kerzenwachs abdichtete.
„So mein Junge, das ist jetzt deine Flaschenpost!“, selbst der Vater schien ein bisschen stolz auf das gemeinsame Werk. „Damit fahren wir drei am nächsten Wochenende ans Dreiländereck, wo du die Botschaft ins Wasser werfen kannst.“
Dazu kam es nicht, denn Pierre brach sich beim Radfahren das rechte Bein und blieb für zwei Monate an sein Zuhause gebunden.
„Ich werde die Flasche für dich in einen Fluss werfen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt“, versprach der Vater seinem untröstlichen Sohn.
Es dauerte, bis Pierre wieder herumtollen konnte. Doch niemand schien in dieser Zeit seine Nachricht gefunden, geschweige denn darauf geantwortet zu haben. Als er einiges später einmal am Familientisch die Flasche erwähnte, meinte sein Vater lapidar: „Du musst Geduld haben, mein Sohn, du wirst deine Nachricht bestimmt erhalten.“

Fast fünfzig Jahre gingen ins Land.

Nie war die Familie an den großen Teich gefahren und für immer schien die Flaschenpost vergessen. Bis jetzt, als Pierre durch Zufall den erschütternden Beweis entdeckte, dass ihn sein Vater vor langer Zeit hintergangen hatte. Er erzählte Jana die Geschichte und bat sie, über den Fund im Sekretär zu schweigen. In seinem Kopf aber reifte nach und nach ein Plan.

Pierres Mutter tat sich anfangs schwer in der neuen Umgebung. Doch dank regelmäßiger Besuche von Sohn und Schwiegertochter fanden sich die betagten Eheleute mit der Zeit zurecht und genossen die veränderten Lebensbedingungen.
Eines Morgens lag ein Umschlag in ihrem Briefkasten mit einem Vermerk der Post: Nachsendung.
Pierres Vater riss das Kuvert auf, entnahm ihm eine Postkarte und stutzte.
„Wir haben Post aus dem Ausland, von wem die wohl kommen mag?“ Neugierig griff er zur Lupe und stellte überrascht fest, dass die Karte in Scheveningen aufgegeben worden war.
„Die Karte kommt aus Holland.“
Nach einigem Grübeln kamen ihm nur die Vissers und das Ehepaar Bakker in den Sinn, die zwei einzigen holländischen Paare, welche sie damals auf deren Besuch in der Schweiz kennengelernt hatten. Aber ob die noch lebten?
„Lies du den Text“, er hielt seiner Gattin die Karte hin und sie las vor:
„Lieber Pierre. Lange muss es her sein, dass du diese Fles in den Rhein geworfen hast, aber wir haben sie erst onlangs gefunden. Trotzdem möchten wir dir Antwoord geben und senden dir warme Groeten aus Holland.
Familie Dijkstra van Den Haag.“

Sie hob irritiert den Blick: „Kennst du eine Familie Dijkstra? Und, warum ist die Karte an unseren Sohn adressiert?“
Die Gesichtszüge des alten Mannes verhärteten sich. Schweigend und mit verkrampfter Faust blieb er ihr die Antwort schuldig.

Jana hatte ihren freien Tag genutzt, um den Balkon aufzuräumen und ihrem Lebenspartner einen Streuselkuchen zu backen. Sie nahm das vibrierende Handy vom Balkontisch und las das neueste Mail: „Ciao Schatz. Habe soeben Mitteilung von Mike erhalten, er hat die Karte von Scheveningen aus versandt. Bleibt noch bis Freitag. Bin gespannt auf Reaktion. Love P“
Doch die Aktion mit der fingierten Karte lief ins Leere.
So schien es zumindest für einige Wochen, bis Pierre einen Briefumschlag fand. Sein Vater musste ihm diesen in einem unbemerkten Moment in die Jackentasche gesteckt haben. Er enthielt einen ansehnlichen Geldbetrag, einen Brief und ein weiteres völlig zerknittertes, vergilbtes Schreiben.
„Jana, Liebling, ich muss dir etwas zeigen, setz dich, das glaubst du jetzt nicht.“
Jana bemerkte einen Anflug von Rührung in der Stimme ihres Partners, als er ihr die Zeilen vorlas:
„Lieber Pierre
Danke für deinen Wink mit dem holländischen Zaunpfahl. Hat ein bisschen gedauert, aber ich habe ihn verstanden. Ich weiß zwar nicht, wie du es angestellt hast, aber der Coup ist dir gelungen.
Du wirst dir gedacht haben, dass ich dich damals hintergangen hätte. Aber glaube mir, mein geliebter Sohn, ich habe das, was damals passierte, nicht gewollt.
Ich hatte mein Versprechen gehalten und viele Monate später bekamst du ein kleines Paket aus Neufundland, welches ich abfing und öffnete!
Deine Flaschenpost war quer über den ganzen Atlantik bis nach Amerika getrieben und von einem lokalen Fischer namens Aylwards aus dem Meer geholt worden. Stell dir das einmal vor!
Er hatte dir die Flasche zurückgesandt, einen netten Brief dazu geschrieben, sich für die Zeichnungen bedankt und dir zu deiner Aktion gratuliert.
Wie aber hätten deine Mutter und ich unser Versprechen einhalten können? Undenkbar!
Ich habe Brief und Flasche über alle die Jahre versteckt gehalten und niemandem, auch nicht deiner Mutter, je etwas von diesem spektakulären Fund gesagt. Auch sie hat erst dieser Tage davon erfahren!
Verzeih mir bitte, lieber Pierre, ich konnte damals nicht anders handeln, es blieb mir schlicht keine andere Wahl.
Die Zuwendung ist als kleine Wiedergutmachung und für ein schönes Abendessen gedacht.
Alles Liebe! Dein Vater
PS. Das beiliegende Brieflein zeigt dir, dass du im Sekretär etwas übersehen hast… Nobody is perfect!“

* * *

Pierre benötigte nicht lange, um Jana von seiner Idee zu überzeugen und auf Anfrage offerierte das Strandhotel in Bergen aan Zee zwei reizende freie Zimmer mit direktem Blick aufs Meer.
Drei Wochen später nahm der Sohn seinen Vater am Arm, deutete mit dem Kopf auf die beiden Frauen, welche im Sand nach Muscheln suchten und meinte: „Es muss ja nicht zwingend Neufundland sein!“

 

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