Von Marianne Apfelstedt

Ich eilte mich, um Schritt zu halten, so liefen wir durch die Nacht. Ein Kauz untermalte mit schaurigem Ruf unsere Schritte auf dem Pflaster. Von der Themse wehten Nebelschwaden herüber und mit ihnen der Geruch von gegerbtem Leder.
„Wir stellen uns vor das Salisbury Court Theater. Die Aufführung ist gleich aus und dann kommen die ganzen reichen Pinkel und wollen nicht im Dunklen nach Hause gehen.“ James hielt die Fackel in der Rechten und zog mich mit dem anderen Arm hinter sich her. Der Eingangsbereich des Theaters wurde von weiteren Fackeln erhellt. Die ersten Besucher traten durch das Eingangstor nach draußen und James entzündete meine Fackel. Er schubste mich Richtung Eingang und rief: „Denk daran, auf dem Heimweg löschst du die Fackel.“
Ich hielt mich aufrecht, die Fackel in beiden Händen vor der Brust, stolz darauf, ein Linkboy zu sein, stand ich am Rand der Menschenmenge, die vorbeieilte.
„Hey, Fackeljunge. Bring uns in die White Chapel. Ich gebe dir 2 Penny.“ Ein Lord in Begleitung einer jungen Lady trat zu mir, ihr freundliches Lächeln machte mich verlegen, mit der freien Hand rupfte ich mir die Wollkappe vom Kopf.
„Jawohl.“ Ich lief los in Richtung der St. Pauls Kirche und sah mich immer mal kurz um, ob sie mir noch folgten. In der White Chapel rief der Lord mir zu: „Halt, bleib stehen!“
Er zog seine Geldkatze aus dem Wams, um zwei Münzen herauszufischen, die er mir in die ausgestreckte Hand legte.
„Lauf Junge, wir brauchen dich nicht mehr.“ Die Lady winkte mich davon. Ich verneigte mich, löschte die Fackel und lief nach Hause.

„Jack, mein Junge, da bist du ja wieder.“ Mum schloss mich in ihre Arme. Ich drückte sie nur kurz. Bin ja fast schon ein Mann.
„Ich habe 2 Penny bekommen. Wo ist James?“
„Bist ein guter Junge. Er ist noch nicht zurück. Dad auch nicht, vermutlich ist er noch im Pub. Lauf nochmal los. Bestimmt braucht dein Bruder deine Hilfe, um Dad nach Hause zu bringen.“ Erneut ging ich in die Nacht hinaus. Die Straßen mit ihren gedämpften Geräuschen waren mir auch im Dunklen vertraut. Ich schlug den kürzesten Weg zum Pub durch das East End ein. Im Laufschritt rannte ich die nächste Gasse entlang, an deren Ende gerade ein Fackeljunge mit einem Mann vorbeilief. Als ich mich näherte, hörte ich ihn. „Nur noch zwei Straßen Sir, das ist eine Abkürzung.“ Die Stimme des Jungen kenne ich doch. Ich wollte zu den beiden aufschließen. Der Lichtschein erlosch, verblüfft blieb ich stehen.
„Bursche, warum ist deine Fackel aus? Wo bist du?“
Ein Junge ging in die entgegengesetzte Richtung an der Einmündung zur Straße vorbei. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen und doch war ich mir sicher, dass es James war. Vom anderen Ende der Querstraße ertönte Geschrei. Wo läuft mein Bruder hin?
„Her mit dem Beutel. Es gibt kein Entrinnen.“
„Ihr Lumpengesindel, lasst mich!“
Ich spähte in die Straße. Der Edelmann war umzingelt, drei Gestalten rückten ihm auf den Leib. Ich traute mich nicht, ihm beizustehen. Hinter mir ertasteten meine Hände hüfthohes, raues Mauerwerk. Wüste Beschimpfungen, ein Schrei ertönte, dann klimperten Münzen auf dem Pflaster. Eilige Schritte näherten sich. Schnell zwängte ich mich hinter die Mauer, zusammengerollt wie unsere Katze, wagte ich kaum zu atmen. Sie kamen näher. Meine Wange drückte sich an die Pflastersteine, deren Kälte mir unter die Kleider kroch. Ich hielt die Luft an, riskierte erst einen tiefen Atemzug, als die Schritte in der Gasse verklangen. Vorsichtig schlich ich zum Durchgang und lauschte in die dunkle Chester Field, dort hörte ich ein Stöhnen. Dem Herrn sei gedankt, er lebt. Ich wählte einen anderen Weg zum Pub durch das Labyrinth der Gassen.

Die Fenster des Pubs strahlten in die Nacht. Ich schaute durch die Scheiben. Auf den Bänken saßen Männer und Frauen mit Humpen von Bier und Bechern mit Cider. Dad oder James sah ich nicht. Unschlüssig lief ich ein Stück weit in verschiedene Gassen und tatsächlich kam aus einer James angelaufen.
„Was machst du hier und wo ist deine Fackel?“
„Ich war bei Mum. Sie hat mich losgeschickt, ich soll dir mit Dad helfen“.
„Dad ist nicht mehr im Pub. Er hat sicher schon den Weg nach Hause gefunden, lass uns verschwinden.“ Schweigsam schritten wir durch die dunklen Gassen nahe der Themse. Aus den Lagerhäusern traten drei Gestalten.
„Hey James, du hast dich heute bewährt. Der Pfeffersack hatte eine dicke Geldkatze dabei. Hier ist dein Anteil, du bekommst 4 Penny.“ James ging den Kerlen entgegen, ich blieb vorsichtig ein Stück zurück. Sind das die Männer aus der Chester Field?
„Wer ist das? Auch ein Fackeljunge?“ Der größte von ihnen mit roten Haaren kam näher und mit ihm seine Ausdünstung nach Zwiebeln und Bohnen.
„Das ist mein Bruder Jack.“
„Bring ihn morgen mit, es gibt genug Edelleute, denen ihr heimleuchten könnt. Jetzt verschwindet, die Nacht ist nur für Männer.“
James öffnete den Mund, um zu widersprechen, wie es seine Art war. Der Rote beugte sich uns entgegen, seine Augenbrauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen, grimmig starrte er uns an.
„Aye, Sir!“ James trat zurück, packte meinen Ärmel und zog mich mit sich. Wieder musste ich einen Umweg in Kauf nehmen. Nebel legte sich wie Sirup auf die Dächer, floss träge auf den Boden und waberte in den Gassen. Ich gähnte herzhaft und schleppte mich James hinterher. Bei unserer Kate angekommen schlug die Turmuhr zehn, ich legte mich auf meinen Strohsack nahe an den Herd und schlief sofort ein.

Vor dem Morgengrauen wurden wir durch lautes Klopfen an unsere Tür aus dem Schlaf gerissen. Zwei Männer standen vor unserer Kate und zwischen ihnen auf einem Brett lag Dad. Ich wollte sein Gesicht nicht sehen und starrte auf die Pfütze, die sich auf der Erde ausbreitete. Durch das Wehklagen von Mum drangen nur einzelne Worte an mein Ohr
„Hing im Mühlrad … stöhnte noch … brauchte Hilfe … zu spät.“
„Dad“, schluchzte ich. Mum drückte mir die kleine Jenna in den Arm. Die Männer setzten das Brett an der Hüttenwand ab und kneteten verlegen ihre Mützen. Mum weinte leise und strich Dad mit einem Tuch das nasse Haar aus dem Gesicht. Damit keiner meine Tränen bemerkte, vergrub ich mein Gesicht in Jennas seidigen Haarsträhnen. Meine Zähne gruben sich schmerzhaft in meine Lippen, um ein Schluchzen zu vermeiden.

Mum hielt Totenwache an Dads Seite, mit der schlafenden Jenna im Arm, als wir uns in der Dämmerung auf den Weg machten. Wir trafen den Roten mit seinen Vasallen an den Docks.
„James, du kommst mit uns. Dein Bruder soll sich mit Ryan auf den Weg zu den Tavernen in der Hart Street machen.“ James entzündete meine Fackel und lief den Männern hinterher. Ich drehte mich zu Ryan um, dessen Visage, mit der gezackten Narbe vom Mundwinkel bis unter das Auge, mir bedrohlich nahekam.
„Geh voraus. Ich folge dir. Sobald du in einer Seitenstraße bist, löschst du die Fackel und haust ab. Ich besorge den Rest. Um zehn treffen wir uns an den Docks.“ Mit seinen schlurfenden Schritten im Rücken, weil Ryan sein rechtes Bein nachzog, lief ich los. Als der Pub in Sicht kam, hörte das Schlurfen auf. Verloren stand ich auf dem Platz vor der Taverne, hoffend, dass in dieser Nacht keiner einen Fackeljungen suchte und doch brauchten wir jeden Penny. Eine Gruppe kam eben zur Türe heraus. Ich hielt die Fackel gut sichtbar und bangte.
„Sieh an, der Linkboy von neulich. Dem können wir uns anvertrauen. Komm mit. Wir begleiten erst unsere Granny nach Hause, dann bringst du uns in die White Chapel.“ Ich ging voran, die plaudernden Stimmen überdeckten das Schlurfen nicht. Die junge Lady trug heute einen Hut. Ein Blick auf sie, den sie mit einem Lächeln erwiderte, ließ mein Herz ein wenig leichter schlagen. Am Haus der Granny angekommen, bekam ich zwei Penny. Wir warteten, bis sie ihre Türe geschlossen hatten, dann liefen wir weiter. Hatte das Schlurfen aufgehört?
„Hörst du etwas?“, fragte die Lady. Um eine Antwort verlegen, hastete ich vorwärts. Meine Füße verloren den Halt, ich ruderte mit den Armen und landete schmerzhaft auf den regenfeuchten Pflastersteinen. Die Fackel rollte in das Rinnsal am Rand und der Lichtschein wurde kleiner, bevor er erlosch.
„Verschwinde!“, knurrte Ryans stinkende Stimme in mein Ohr. „Hey, du Pfeffersack. Gib mir deinen Beutel, wenn dir dein Leben lieb ist.“
Ich tastete nach der Fackel, konnte sie nicht finden. Mit dumpfem Aufschlag landete etwas auf dem Boden.
„So mein Täubchen, jetzt zu uns beiden. Mein Schwengel hat schon lange nicht mehr in so zartes Fleisch gestochen.“
Tastend streiften meine Finger über das glitschige Pflaster.
„Nehmt das Geld meines Vaters und verschwindet.“
Suchend kroch ich über den Boden.
„So zarte Haut und weiches Haar.“
„Finger weg!“
Endlich stieß ich auf einen armdicken Holzstab.
„Hilfe, Hilfe …“ Ihr abrupt ersticktes Schreien zwang mich zur Eile.
Ich griff das Holz, rappelte mich auf und trat näher. Ryan hatte die Lady an die Wand gedrückt, eine Hand zerrte an ihren Röcken, während die andere Pranke ihr die Lippen zuhielt. Ich rammte Ryan das Ende des Stocks in den Rücken. Er drehte sich um und warf mich zu Boden. Verzweifelt umklammerte ich sein Bein und biss ihm ins Fleisch. Er zog mich an den Haaren nach oben, gefror in der Bewegung ein und riss mich mit sich zu Boden. Mein Kopf landete schmerzhaft auf dem Pflaster. Die Kälte der Pflastersteine fesselte mich an den Boden und es wurde dunkel.

**

Ich spürte kühle Finger auf meiner Stirn und öffnete die Augen.
„Wie wunderbar, du weilst unter den Lebenden.“ Die Stimme erkannte ich sofort. Ich kniff die Augen zusammen, aber ihr Bild blieb unscharf.
„Nicht aufsetzen, leg dich wieder hin. Du hast eine große Beule am Kopf.“ Ich fügte mich, da sich mein Schädel anfühlte, als wäre er zwischen die Mühlsteine geraten.
„Wer hat uns gerettet?“
„Nachdem dieser Beutelschneider von mir abließ, weil du ihn ins Bein gebissen hast, ist ihm sein Messer entglitten. Dad und ich haben es gefunden und er hat es ihm in den Rücken gebohrt.“ Schläfrig schloss ich meine Augen, ihr Veilchenduft verweilte bei mir, geleitete mich in meine Träume.

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