Von Michael Piel

Wo bin ich? Wer bin ich?

Ich versuche meine Augen zu öffnen. Sind meine Augenlider schon immer so schwer gewesen? Langsam geben sie nach. Geschafft! Schnell schließe ich sie wieder, als sich das grelle Weiß meiner Umgebung in meinen Schädel gräbt. Wo bin ich? Ich habe nichts erkennen können, bevor der Schmerz mich überwältigt hatte. Soll ich es noch einmal versuchen? Bringt das was? Soll ich mir den Schmerz ersparen? Ich versuche meine Augen noch einmal zu öffnen. Diesmal geht es einfacher. Der erste Spalt bildet sich zwischen meinen Augenlidern. Das Licht wirkt nicht mehr ganz so grell und ich kann Schemen erkennen. Ich öffne meine Augen noch ein weiteres Stück. Ich kann immer noch keine Einzelheiten ausmachen. Ist das ein Tisch, oder ein Stuhl? Ich öffne meine Augen vollständig. Ich habe mich geirrt, das Licht ist immer noch sehr, sehr grell. Ein starker Schmerz fährt in meinen Kopf und meine Augen beginnen zu tränen, doch ich halte meine Augen offen. Ich halte sie tatsächlich offen. Wo zum Teufel bin ich? Ich befinde mich in einem weißen Raum. Grelles Licht kommt aus einem der weißen Vierecke irgendwo über mir. Hinter dem Fenster an der Wand erkenne ich eine Schwärze, die sich von der grellen Reinheit des Raumes abgrenzt. Eine leichte Sehnsucht überkommt mich. Ein Ort an den ich möchte. Doch mein Blick wandert weiter durch das Zimmer. Hm? Liegt da jemand mit dem Kopf auf meinem Bett? Wer ist das? Ein Mädchen? Ich fühle, wie mich die Benommenheit wieder einlullt und ich zurück in die wohlige Schwärze sinke.

 

Ich öffne meine Augen. Mann, habe ich gut geschlafen, bis auf das komische Zeug, dass ich geträumt habe. Ich gähne und versuche mich zu strecken, aber mein rechter Arm reagiert nicht. Schlaftrunken schaue ich an mir herab und erkenne, dass mein Arm in einen dicken Verband eingepackt ist. Was ist hier los? Träume ich noch? Langsam beginne ich meine Umgebung um mich herum wahr zu nehmen. Wo zum Teufel bin ich? Warum liege ich nicht zu Hause in meinem Bett? Ich bin in einem weiß gestrichenen Zimmer, mit einem grauen Boden und hellbraunen Möbeln. An der Wand befindet sich ein großes, geöffnetes Fenster, aus dem frische Luft in das Zimmer dringt und den Klang von Vögeln zu mir trägt. Das Licht, das durch das Fenster dringt, zeigt an, dass der Tag bereits fortgeschritten sein muss. Ich selber liege in einem Bett aus Metall und einer weißen Decke, die über meinen Füßen liegt, die ich allerdings nicht spüren kann. Neben jenem Bett steht ein großer Mann in einem weißen Kittel und einem Klemmbrett in den Händen, der mich neugierig mustert.

“Guten Morgen Herr Dinkelberg. Oder darf ich Tom zu dir sagen? Ich heiße Doktor Müller. Ich bin dein betreuender Arzt.”

Ein Arzt? Moment. Bin ich etwa in einem Krankenhaus? Ich versuche mich aufzurichten, doch ein starker Schmerz, der sich durch meinen ganzen Körper zieht, hält mich davon ab.

“Das solltest du lieber nicht versuchen. Du hast einen gebrochenen Arm, beide Beine sind gebrochen und auch deine Wirbelsäule weist stellenweise Frakturen auf. Du lagst vor den Operationen tagelang im Koma. Aber das ist bei dem Sturz kein Wunder. Es ist eher ein Wunder, dass du sonst nichts hast. Nach ein paar Monaten solltest du…”

Ich höre ihm nicht mehr zu. Meine Gedanken rasen. Sturz? Was für ein Sturz? Dann hören meine Gedanken auf zu rasen. Oh,… dieser Sturz.

“Ich werde nun deiner Mutter Bescheid geben. Sie wird sich freuen zu hören, dass du aufgewacht bist.”

Mom? Nein, sie will ich jetzt nicht sehen. Ich habe kein schlechtes Verhältnis zu meiner Mom, aber seit dem Tod meines Dads auch kein besonders gutes. Ich glaube wir haben uns beide gegenseitig die Schuld dafür gegeben. Diese Gedankenflut… Ich wünschte ich könnte einfach aufhören zu denken. Das mit dem aufhören zu sein hat ja offenbar nicht funktioniert.

 

Die Tür öffnet sich. Eine große Frau mit langen, schwarzen Haaren, die zu einem Dutt verknotet sind, und einem grauen Jackett kommt herein.

“Mom”, flüstere ich.

Sie sagt nichts und setzt sich auf den Stuhl, der direkt neben meinem Bett steht. Lange Zeit schweigen wir uns an.

“Warum hast du das getan?”

Ja, warum?

“Ich… weiß es nicht.”

Ich weiß es wirklich nicht, oder? War es wegen der Fünf in Mathe? War es wegen Timmy, der mich wieder als vaterlosen Hurensohn bezeichnet hatte? Oder war es wegen Mom, die mich seit Vaters Tod ansieht als wäre ich unerwünscht? Vielleicht war es auch wegen Marie, die seit zwei Wochen mit diesem neuen Typen rumläuft und keine Zeit mehr für mich zu haben scheint? Warum hat sie mir nicht gesagt, dass sie jetzt einen Freund hat und mich nicht mehr braucht? Marie. Seit dem Kindergarten sind wir mit einander befreundet und sehen uns fast jeden Tag und trotzdem weiß ich nur so wenig über dich. Warum ist mir nicht schon vorher aufgefallen, wie ignorant ich gewesen bin? Ich habe dich immer mit meinen Sorgen und Problemen vollgetextet, dabei hast du deinen Vater viel früher verloren als ich. Trotzdem warst du immer so stark.

“Wie kann man nicht wissen, warum man sich umbringt.”, Moms Stimme ist ruhig, doch ein deutliches Zittern ist in ihr zu hören, genauso wie eine kalte Schärfe. Ja, verurteile mich. Als hättest du nach Dads Tod nicht auch darüber nachgedacht. Ich habe dich doch mit der Klinge am Arm gesehen.

“Ich weiß es einfach nicht.”

Mom steht ruckartig von ihrem Stuhl auf, ihre Hände sind zu Fäusten geballt. Sie zittern.

“Meinst du, es ist nicht schon schwer genug für mich, dass dein Vater sich umgebracht hat. Denkst du nicht über die nach, die du dabei zurücklässt?”

“Dads Tod war nicht nur für dich schwer”, flüstere ich in die entgegengesetzte Ecke des Raumes. Aber scheinbar noch laut genug, dass Mom mich hört. Ihre ruhige Fassade platzt.

“GLAUBST DU ETWA DER TOD IST EIN SPIEL? Warum bin ich nur von so egoistischen Idioten umgeben.”

Es reicht. Wenn du die Beherrschung verlieren kannst, kann ich das auch. Ich drehe mich zu ihr um.

“Vielleicht bringen sich alle in deiner Umgebung um, WEIL DU SIE IMMER NUR WIE DRECK BEHANDELST.”

Langsam wandert ihre Hand vor ihren offenen Mund. Ihre Augen sind vor Schreck geweitet. Das hätte ich nicht sagen sollen. Nicht so. Doch jetzt ist es raus. Jetzt kann ich es nicht mehr zurücknehmen oder mich dafür entschuldigen. Das wäre eine Schwäche, die ich nicht zeigen kann. Nicht jetzt. Mit zornigem Blick starre ich sie weiter an, warte auf eine Erwiderung. Aber es kommt nichts. Schweigend wendet sie sich ab und geht zur Tür. Im Rahmen bleibt sie stehen.

“Ich habe dir noch jemanden mitgebracht.”

So viele Gefühle schwingen in ihrer Stimme mit. Trauer, Schmerz, Wut, Ohnmacht…

 

Ein paar Minuten später öffnet sich die Tür wieder. Ein schwarz gekleideter, älterer Mann betritt den Raum. Er scheint das Licht förmlich in sich hinein zu saugen.

“Pfarrer Peter, was machen sie denn hier?”

Pfarrer Peter ist der Pfarrer in unserer Gemeinde. Ich weiß gar nicht, wie er wirklich heißt. Ob Peter wohl sein Vorname ist?

“Tom, wie geht es dir?”

Er durchschreitet den Raum und setzt sich auf den Stuhl, auf dem vor ein paar Minuten noch meine Mom gesessen hatte. Mom…

“Den Umständen entsprechend. Da ich die Hälfte meines Körpers kaum spüre, würde ich sagen zu 50 Prozent gut.”

Ich grinse ihn an und er grinst zurück. Wir haben uns schon immer gut verstanden.

“Konntest es wohl nicht erwarten mich zu überspringen und dem Leben vor mir lebe wohl zu sagen, was?”

Er zwinkert mir zu. Irgendwie hat mich seine Wortwahl schon immer fasziniert.

“Ach, sie wissen doch, das Leben ist ja auch nur ein Umweg in den Tod. Wir alle werden irgendwann sterben. Die Frage ist nur wie lange wir das Leben aushalten.”

Ich grinse, doch das Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet und nachdenklich zieht er seine Stirn kraus.

“Du meinst wohl eine Umleitung.”

“Häh?”

“Tom, was ist deiner Meinung nach der Unterschied zwischen einem Umweg und einer Umleitung?”

Was soll diese Frage. Ich weiß nicht was ich darauf antworten soll. Es ist aber auch egal, da er mir sowieso keine Zeit zum Antworten gelassen hätte.

“Für einen Umweg entscheiden wir uns selbst. Aber auf eine Umleitung werden wir gezwungen. Es liegt nicht in unserer Macht, ob wir die Umleitung nehmen oder nicht. Wir entscheiden nur, ob wir sie bis zum Ende gehen.”

“Ich weiß nicht, was sie mir damit sagen wollen. Es macht doch keinen Unterschied ob wir ins Leben gezwungen wurden oder nicht. Es ist und bleibt ein Umweg. Am Ende wartet der Tod. Und der wartet auch, wenn wir vorher aufgeben. Da ist doch alles egal.”

“Du hast recht. Eine Umleitung ist auch ein Umweg, aber einer der gemacht werden muss. Ohne diese Umleitung würde man das Resultat, dass man sich am Ende erhofft nicht erzielen. Denn nicht immer ist der kürzeste Weg der Richtige. Es kann auch oft sein, dass ein Umweg eine Umleitung wird, ohne dass wir es vorher wussten. Also ein Weg, der bestritten werden muss, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Egal, ob wir ihn gehen wollen oder nicht. Manche nennen das Schicksal.”

“Das ich jetzt im Krankenhaus liege soll also Schicksal sein?”

“Wer weiß? Und genauso verhält es sich mit dem Leben. Wenn man es nicht bis zum Ende gelebt hat, bis zum Ende der Umleitung, weiß man nicht, was einem auf dem Weg und vor allem am Ende erwartet. Der Tod ist dabei nicht das Ziel, sondern das Leben selbst ist es, egal wie steinig oder unbequem es manchmal ist.”

Draußen im Gang sind schnelle Schritte und Rufe zu hören. Ein leises Lächeln huscht über Pfarrer Peters Gesichtszüge. Oder habe ich mir das nur eingebildet?

“Vielleicht ist dein Aufenthalt hier auch eine Umleitung. Wer weiß, was an ihrem Ende wartet?”

Er zwinkert mir zu, steht auf und geht zur Tür.

“Warten sie, was soll das bedeuten?”

Er lächelt mich noch ein letztes Mal an und verlässt den Raum. Eine Sekunde später fliegt die Tür förmlich auf. Im Rahmen steht ein Mädchen. Maria? Ihr Kopf ist rot vor Anstrengung und sie atmet schwer. Mit schnellen Schritten und ernstem Blick kommt sie auf mich zu und… küsst mich?

Vielleicht, nur vielleicht ist das Leben wirklich ein Umweg, den ich gehen muss.