Von Nelly Klein

Sie geht hinter ihnen her, bei jedem Schritt stößt der Rollkoffer gegen ihre Sportschuhe. Der Anblick ihrer Eltern so vertraut, so unlieb geworden. Was war das noch für ein Gefühl als Kind? Freude? Glück? Zuversicht? Geborgenheit. Wenn auch nicht das pure Glück, so war es das doch gewesen. Jetzt ist es ihr entschwunden, nicht seit kurzem erst, länger schon. Nur bemerkt hat sie es erst in der letzten Zeit. Das Fehlen. Bemerkt. Von Geborgenheit. 

Sie sind am Check-In angekommen und stellen sich in die Warteschlange. Terminal 1D, Schalter 10. Schrift, weiß auf schwarz, an den Anzeigetafeln. Leuchtschrift, gelb auf blau, über jedem Schalter. Der Vater fragt, ob alles in Ordnung sei. Sie nickt. Den Pullover über diesem Hemd, das hat er schon vor zehn Jahren getragen, schießt es ihr durch den Kopf. Aufregung sei ganz normal, meint die Mutter. Man ziehe ja nicht alle Tage in die weite Welt hinaus. Sie nickt. Sie machen sich sorgen um mich, denkt sie. Sehr nett, eigentlich. 

Jetzt ist das Ende der Warteschlage erreicht. Oder der Anfang, ganz wie man es nimmt. 19,4 Kilogramm. Der blaue Rollkoffer verschwindet auf dem Fließband. Im Weiterlaufen fehlen ihr die rhythmischen Stöße des Koffers an ihren Schuhen. Sie betrachtet die Menschen. Pendler. Paare. Kinder mit ihren Eltern. Sie fliegen geradezu vorbei, Momentaufnahmen in ihrem Geiste. Vergeblich sucht sie in der Menschenmenge nach einer Situation, die der ihren gleicht. Ich bin ganz allein, denkt sie. 

Die Eltern bleiben stehen. Sie sind an der Sicherheitskontrolle angekommen, haben aber noch etwas Zeit. Sie setzen sich neben eine alte Dame mit Brille und blauer Bluse. Die Dame lächelt. Wo es denn hingehe. Nach Südamerika, zum Freiwilligendienst, erklärt die Mutter. Ob sie sich schon freue, möchte die Dame wissen. Da kann die Mutter nicht antworten. Ja, ganz bestimmt freue sie sich, erwidert sie selbst. Und fragt sich, ob das stimmt. Zuhause passte es nicht mehr ganz, doch war das gleich ein Grund, in die Ungewissheit zu ziehen? 

Nach zwanzig Minuten macht sie sich auf den Weg zum Gate. Die Eltern umarmen sie zum Abschied. Die Mutter gibt sich Mühe, nicht zu weinen. Sie liebt ihre Eltern, ganz bestimmt, denkt sie. Ein bisschen Abstand wird vielleicht genau das Richtige sein. Einfach nochmal weg – und dann würde sie sich wieder gut fühlen. Mit ihnen. 

Sie durchquert die Kontrolle. Alle Gedanken hat sie nach vorn gerichtet. Trotzdem dreht sie sich noch einmal um, das ist sie ihnen schuldig. Ein Blick, ein Lächeln. Als der Moment um ist und ihre Schritte sie Richtung Flugzeug tragen, atmet sie die Klimaanlagenluft tief ein. Eine letzte Wartezeit, dann das Boarding. Zusammen mit all den Fremden betritt sie die Maschine. Kommt zu ihrem Platz. Es ist ein Fensterplatz, das haben die Eltern extra für sie geändert. Sie sieht gerne zu, wie die Welt kleiner wird. Einen Platz weiter sitzt eine Dame in blau und zwinkert ihr zu.