Von Marianne Apfelstedt

 

            Gnade
            Nicht wie die Frucht vom Apfelbaum
            läßt die Liebe pflücken sich!
            Sie ist Gott, Du und ich.
            – Käthe Löwenthal –

 

 

Die Märzsonne streckte ihre Strahlen durch die Scheibe und ließ die Staubkörner schweben, fasziniert beobachtete Käthe den Tanz. Im Nachthemd und mit bloßen Füssen, am Fenster stehend.

„Du Schlafmütze, wir warten auf dich. Mutter hat mich losgeschickt, dich aufzuwecken, beeile dich“, rief Auguste von der Türe her. Schnell zog sich Käthe um und folgte lachend ihrer Freundin die Treppen hinunter. Die Märzsonne hatte ihre Haut erwärmt, doch die Liebe ihrer Ziehfamilie wärmte ihr Herz. Vor einigen Jahren, als ihr Papa die Gastprofessur in Bern beendete und ihre Familie zurück nach Berlin zog, entschied sich Käthe dafür, in Bern zu bleiben und bei ihrem Vorbild Ferdinand Hodler malen zu lernen. In der guten Stube waren alle versammelt und begrüßten sie mit einem Geburtstagslied.

„Liebe Käthe! Alles Gute zum 19. Geburtstag,“ gratulierte Augustes Vater. Die Mutter umarmte sie und schob sie dann an den Esstisch, auf dem eine Vase mit Tulpen stand.

„Du musst deine Päckchen auswickeln, eines ist von uns und eines von deinen Eltern aus Berlin“, drängte Auguste.

„Lass uns erst essen, der Hefezopf duftet so lecker.“ Die Mutter verteilte Scheiben des Gebäcks und die Mädchen bestrichen sie dick mit Pflaumenmus. 
Einige Monate später trübte nicht nur der Herbststurm die Stimmung.
„Du könntest doch bei uns bleiben, um, wie ich, die Haushaltsführung zu erlernen“, bat Auguste.

„Ich muss malen und meine Bilder ausstellen! Ich danke dir für deine Freundschaft, aber mein Lebensweg verläuft in anderen Bahnen. Ich komme wieder hierher zurück, hier sind meine Wurzeln, so tief wie die Bergseen.“ Käthe huschte durch das Zimmer und legte ein Sammelsurium von Kleidung, Papier und Malutensilien in den Überseekoffer aus braunem Leder.

„Grüß mir deine Eltern in Berlin“, bat die Freundin beim Abschied.

Berlin empfing die Reisende mit trübem grauen Herbstwetter. Die Tür des Stadthauses wurde von einer jungen Frau geöffnet, die Käthe sofort um den Hals fiel.

„Endlich bist du wieder bei uns, ich muss dir so viel erzählen.“

„Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, konnte ich noch über deinen Scheitel blicken und jetzt sehe ich direkt in deine Augen. Mein Schwesterherz ist eine junge Frau geworden.“

„Schau her!“ Susanne drehte sich, dass ihre Röcke nur so flogen und die Zöpfe hinterher. Der Koffer blieb neben der Tür stehen und die Schwestern schlenderten Arm in Arm in die Stube zur Mutter.
Im nächsten Jahr bereisten die beiden Italien. Nach vielen Stunden Fußmarsch auf den staubigen Straßen erreichten sie einen Gasthof. Der milde Tag, der schon den Sommer versprach, ohne erdrückende Hitze im Gepäck, hatte die Reisenden durstig gemacht. Sie gingen die Reihen der Holzbänke und Tische entlang, auf der Suche nach einem Platz im Schatten. An einem Tisch saßen nur eine Frau und ein Mann.
„Guten Tag, dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“, fragte Susanne.
„Gerne. Darf ich mich Ihnen vorstellen, Max Raabe und meine Gattin Erna Raabe von Holzhausen“, stelle sich der höfliche Mann vor und rutschte zur Seite, um auf der Holzbank Platz zu schaffen.
„Gerne, vergelt‘s Gott. Ich bin Susanne Löwenthal und reise mit meiner Schwester Käthe.“ Das Eis zwischen den Frauen brach schnell, nachdem sie entdeckten, dass sie die Leidenschaft für Papier und Farbe verband. Dieser Nachmittag war der Beginn einer Verbundenheit. Nach der Reise blieben Erna und Käthe durch Briefe in Verbindung. Das Band der Freundschaft festigte sich aus der Ferne.
Käthe fasste als Malerin in München Fuß und mietete ein Atelier. Bald darauf stellte sie auch in Stuttgart ihre Werke aus. Sie schrieb sich in der königlich württembergischen Kunstschule ein, bezog eine kleine Wohnung in Tübingen, ganz zur Freude von Erna, die in Stuttgart an der Kunstakademie studierte. Die Freundinnen trafen sich regelmäßig auf den Kunstausstellungen der Stadt, zu Wanderungen und auch im Kaffeehaus. Käthe besuchte die Kunstschule und wurde in der Damenmalklasse von Adolf Hölzl unterrichtet. Sie verfeinerte ihre Maltechnik. Ihr Talent ermöglichte ihr, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und so manchem Maler, der sie zuvor nur als Dilettantin geduldet hatte, das Wasser zu reichen. Erna hatte sich in Stuttgart einen Namen als Porträtmalerin gemacht und malte von zu Hause aus.
Nach dem Tod von Max Raabe gab Erna ihrem Fernweh nach. Sie plante Reisen nach Indien, China und Japan. Je mehr sie auf ihren Reisen sah, umso mehr packte sie die Sehnsucht, neue Länder zu besuchen.

Wann immer beide in Stuttgart weilten, trafen sie sich freitags im Café Schrader, Erna saß bereits am gewohnten Tisch, als Käthe eintrat. Sie beobachtete, wie ihre Venus den neuen Hut absetzte und mit erhobenem Kopf die bohrenden Blicke der anwesenden abwehrte.

„Du solltest diese Farben sehen! Die Frauen in China tragen Kleider aus allen Farben des Regenbogens mit Stickereien verziert“, schwärmte Erna.

„Ich kann es mir vorstellen mein Liebling, wenn ich an dein Erinnerungsstück von der letzten Reise denke.“ Als das kanariengelbe Kleidungsstück in ihrer Erinnerung aufblitzte, grinste Käthe schelmisch. Erna lachte schallend. Die anderen Damen im Café schauten indigniert zu den beiden lachenden Frauen, die Konventionen durchbrachen.

„Ich gebe gerne zu, der Farbton in Kombination mit den bunten Pfauen, ist vielleicht ein bisschen verwegen.“

„Ich werde nächste Woche nach Hiddensee reisen. Die Weite dort am Strand tut mir gut, nach den vielen besuchten Ausstellungen der letzten Wochen mit ihren Menschenmassen.“

Die Familie versammelte sich in den Sommermonaten in Susannes Haus in Vitte. Käthe besuchte mit ihrer Schwester den Ausstellungsraum des Hiddensoer Künstlerinnenbundes.

„Der Umbau der Scheune ist vortrefflich gelungen“, schwärmte Käthe.

Henni Lehmann hat dieses riesige Fenster einsetzen lassen, damit die Kunstwerke gut zu sehen sind. Das Licht erzeugt eine besondere Stimmung.“

„Es ist mir eine Freude, meine Bilder hier auszustellen.“

„Lass uns den Rückweg zu meinem Haus über die Dünenheide nehmen, sie blüht gerade und ich will Skizzen anfertigen“, bat Susanne.

„Gerne. Ich möchte später an meinem Bild vom Leuchtturm weiter malen. Es soll bis zur Ausstellung fertig werden.“

Glückliche Jahre verrannen wie der Sand in der Sanduhr. Von einer ihrer Reisen brachte Erna ein Fieber mit, das von Zeit zu Zeit wieder aufflammte.

„Liebes Kätherle, bitte setz dich zu mir auf mein Bett. Magst du mir von Hiddensee erzählen, vom Sommer.“ Hoffnungsvoll suchte Erna den Blick der Freundin. Käthe stützte ihren Kopf mit einem zusätzlichen Kissen, streifte die Pantoffeln von den Füssen und legte sich neben Erna. Mit leiser Stimme erzählte sie: „Nirgendwo ist der Horizont weiter, als wenn mein Blick von den Dünen hinaus geht auf das Meer. Ich beobachte so gerne die Wolken, die vor dem Wind dahin galoppieren.“ Die nächsten Wochen erholte sich Erna und Käthe vollendete einige Auftragsarbeiten im Atelier. Käthe bekam einen Brief, in dem sie aufgefordert wurde, das Atelier nicht mehr zu betreten da sie nicht arischer Abstammung sei.

„Alles aus und vorbei. Heute traf ein Brief ein. Sie haben mich mit einem Malverbot belegt. Ich darf das Atelier in der Ameisenbergstraße nicht mehr betreten, meine Bilder sind gebrandmarkt, entartet, konfisziert und dürfen nicht mehr gezeigt werden. Eine Mappe mit Grafiken und Bildern konnte ich Walter, dem Sohn meiner treuen Marie anvertrauen, bevor ich die Wohnung verlassen musste.“ Mit versteinertem Gesicht und eingesunkenen Schultern lehnte sich Käthe im Sessel zurück.

„Ich hatte es befürchtet. Nach der Machtübernahme und der Gründung der Reichskammer der bildenden Künste. In meinem Vorrat befindet sich genügend Leinwand und Farben, du kannst hier im Haus malen. Annegret wird uns gewiss nicht verraten.“ Käthe schöpfte ein klein wenig Hoffnung und ließ sich von Erna trösten. Mit dem Pinsel auf der Leinwand konnte sie dem Hier und Jetzt für kurze Zeit entfliehen. Auf dem Tisch lag ein Taschentuch mit Blutstropfen, Käthe bemerkte es nicht.

 

Juden durften keine Arier beschäftigen. Käthe war nun auf sich allein gestellt. Ihre frühere Putzfrau, Marie Notdurft, erledigte heimlich Besorgungen für Käthe und brachte ihr Lebensmittel vorbei. Die Wochen verstrichen im einerlei. Käthe, der Freiheit des Malens beraubt, verließ ihre Wohnung nur, um Erna zu besuchen, deren Gesundheitszustand sich stetig verschlechterte. Bekannte Gesichter, die ihren Weg kreuzten und gewöhnlich immer grüßten, wechselten jetzt auf die andere Straßenseite, um Abstand zu halten. Käthe senkte das Haupt, verbarg ihr Gesicht im Schatten des Hutes und lief schneller als gewöhnlich.
„Bleibst du heute bei mir mein Kätherle? Ich lausche so gerne deiner Stimme, wenn sie glückliche Tage heraufbeschwört.“ Käthe bettete Ernas Kopf an ihre Brust und strich das blonde Haar aus der Stirn.

„Mein Liebling, erinnerst du dich noch an unseren Ausflug zum Bärensee im letzten Sommer? Der Picknickkorb war mit Waffeln und den ersten Erdbeeren gefüllt. Zitronenfalter begleiteten uns auf dem Weg durch die schwäbische Alb.“ Leise erzählte Käthe, nur unterbrochen von Ernas gelegentlichem Husten.
Am nächsten Morgen, als die Sonne ihre Strahlen durch das Fenster streckte, hielt Käthe noch immer Ernas Hand, als sie erwachte. Diese lag nun kalt in der Ihren, sanft faltete sie Ernas Hände vor der Brust. Mit einem Kuss verabschiedete sie sich. Der Fixpunkt war erloschen, es blieb nur die Schwärze und unendliche Kälte.

Sehnsucht
nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.
Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß um die Freude!!
Nur wer zu tiefst es ersehnt, kann das Glück voll erfüllter Wärme, höchster Innigkeit, ehrfürchtiger Dankbarkeit, in die sehenden  Arme nehmen mit dem demutstiefen Stolz, den eben nur die Sehnsuchtsvollen kennen … .                        

-Käthe Loewenthal-

 

 

 

Käthe Loewenthals Leben endete im Todeslager Izbica in Polen.

Die realen Personen sind kursiv geschrieben.

 

 

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