Von Ellen Loeper-Cremer

…Voulez-vous coucher avec moi ce soir? …Gitchi Gitchi Ya Ya Da Da…. Creole Lady Marmelade…

Ich singe aus vollem Halse mit. Lady Marmalade gehört zu meinen Lieblingssongs in diesem Sommer. Normalerweise steh ich nicht auf Discofunk, aber dieser Soul-Funk ist einfach umwerfend.

Was für ein Abend, nein: Was für eine Nacht! Das Underground war rappelvoll gewesen, die Musik wie immer nach meinem Geschmack und alle waren gut drauf. Wir haben endlich das Abi in der Tasche und einen endlos langen Sommer vor uns – und danach: auf in die weite Welt.

Wolle und Zissi müssen zum Bund, Geli und Dani wissen schon, wo sie studieren werden. Ich warte noch auf den entscheidenden Brief. Mal sehen, wohin mich die ZVS verschickt. Berlin wäre cool, Marburg und Heidelberg aber auch. Egal, Hauptsache raus aus dem Kaff und weg von hier.

Was hab ich mich gefreut, als mein Vater mir vor einem Jahr zum 18. grinsend die Schlüssel in die Hand drückte. Heimlich hatte er mir ein Auto zusammengeschraubt. Free the First: weiße Karosserie, blaues Dach, rote Türen. Keine Schönheit, aber mein Ticket in die Freiheit. Endlich konnte ich den öden Nachmittagen an den Wochenenden entfliehen, das Radio laut aufdrehen und mit meinen Leuten durch die Gegend cruisen.

Und zu Rock-Konzerten fahren! So ein erstes Konzert ist wie der erste Kuss: Du vergisst es nie wieder. Als Rory Gallagher kommt, ist klar, dass wir dahin müssen. Drei Leute quetschen sich hinten zusammen, ich fahre, Copilot Geli manövriert mich über die Autobahn nach Düsseldorf zur Philipshalle. Wir wollen so schnell wie möglich in die Halle, sonst sind die Plätze ganz vorne weg. Einen Moment nicht aufgepasst, da klemme ich mir beim Zuschlagen der Autotür meinen rechten Zeigefinger ein. Es tut höllisch weh und blutet wie verrückt. Ein Sani verbindet ihn und ab geht’s in die die Halle. Gute Plätze bekommen wir trotzdem noch. Den Finger spüre ich erst einen Tag später, als sich das Adrenalin langsam abgebaut hat und mein Blut wieder in Normalgeschwindigkeit zirkuliert.

…Gitchi Gitchi Ya Ya Da Da …Mocca chocolata Ya Ya…

Ich gucke auf meine rechte Hand, die lässig auf dem Lenkrad liegt. Der Zeigefinger hat im oberen Gelenk einen kleinen Linksdrall, eine bleibende Erinnerung an Rory. Ich muss grinsen und schaukle zu den letzten Grooves von Lady Marmalade durch die Nacht, in zwei Minuten bin ich zu Hause.

Da wird Hotel California von den Eagles angesagt, meine absolute Top 1. Die muss ich hören. Also wird die Abzweigung ins Heimatdorf links liegengelassen und der Umweg über die Strecke entlang der Bahnlinie genommen.

…On a dark desert highway, cool wind in my hair…Warm smell of colitas, rising up through the air…

Wieder singe ich inbrünstig mit. Den Text kenne ich in- und auswendig, jede Zeile ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Würde man mich nachts aus dem Schlaf reißen, ich könnte ihn aus dem Stand runterbeten. Die Fenster sind weit offen, der warme Wind lässt meine Haare tanzen. Ich fühle mich leicht und frei. Alles ist möglich. Welt, ich komme!

…And I was thinking to myself,…This could be Heaven or this could be Hell…Welcome to the Hotel California…Such a lovely place…

Free nimmt Fahrt auf. Da kommen zwei Scheinwerfer auf mich zu. ‚Komisch, warum sind die denn auf meiner Fahrspur? Die müssten doch links von mir sein?‘ Der Raum weitet sich, die Zeit dehnt sich. Gleichzeitig rasen die Gedanken in Höchstgeschwindigkeit durch meinen Kopf. ‚Der ist auf der falschen Seite. Warum kommen die Schweinwerfer immer näher? Das kann doch gar nicht sein. Das ist unmöglich. Das geht doch gar nicht!‘

Instinktiv und in letzter Sekunde reiße ich das Steuer nach rechts. Das Auto erwischt Free trotzdem noch mit voller Wucht auf der Fahrerseite. Durch den seitlichen Aufprall dreht er sich einmal komplett um 360 Grad und kommt in Fahrtrichtung zum Stehen. Das andere Auto rast durch die Dunkelheit davon.

Es ist ganz still. Ich höre nichts, fühle nichts – keine Angst, keine Wut, keine Empörung über den flüchtigen Fahrer. Ich denke nur ‚Das war knapp‘. Ich steige noch nicht einmal aus, um mir den Schaden  anzuschauen, sondern starte den Wagen und fahre wie ferngesteuert nach Hause. Das Radio ist ausgegangen, kein Ton kommt heraus. Alles ist still, alles ist weit weg.

Irgendwie schaffe ich es, die demolierte Fahrertür zu öffnen und gehe ins Haus. Meine Mutter schläft schon, mein Vater ist noch wach.

„Du siehst aber bleich aus.“

„Ich hatte gerade einen Unfall. Mich hat ein Auto gerammt.“  Mehr kriege ich nicht heraus. Wir gehen gemeinsam hinunter und schauen uns Free an. Er sieht ziemlich mitgenommen aus. Fast die ganze Fahrerseite ist schwer beschädigt, die Fahrertür droht, aus den Angeln zu fallen.

 „Wie bist du denn damit noch nach Hause gekommen?“, wundert sich mein Vater. Er geht um das Auto herum. Er hat sich eine Reval angezündet, inhaliert den Rauch in langen, tiefen Zügen, ab und zu fährt er sich mit dem Daumen über die Stirn. „Das war knapp. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Gott sei Dank ist dir nichts passiert. Wir fahren sofort zur Polizei.“

Auf dem Polizeirevier schildere ich nüchtern und sachlich den Unfallhergang, alles wird minutiös notiert. Mein Vater fragt: „Wie stehen die Chancen, den flüchtigen Fahrer zu ermitteln?“

„Da wir weder die Automarke noch das Nummernschild haben, ist es erfahrungsgemäß schwierig, den Fahrzeughalter ausfindig zu machen.“   

Auf der Heimfahrt starre ich stumm aus dem Fenster, immer noch unfähig, irgendetwas zu spüren oder wahrzunehmen. Mein Vater nimmt kurz meine Hand, drückt sie ganz fest und sagt mit belegter Stimme: „Ich finde heraus, wer das gewesen ist, darauf kannst du dich verlassen. Der Kerl darf nie wieder hinter einem Lenkrad sitzen.“ 

Zu Hause lege ich mich direkt ins Bett, alles scheint immer noch weit weg zu sein. Die Geräusche schweben wie Wattebällchen durch die Luft. Immer wieder denke ich: „Das war knapp.“ Schließlich schlafe ich ein.

Am nächsten Tag fahre ich mit dem Rad zu meinem Job in einem Kiosk. Der Job ist locker: vorne ab und zu ein paar Kunden bedienen, hinten die Vorräte sortieren und dafür sorgen, dass das Klo sauber bleibt. Außerdem bringt er mir noch ein bisschen Geld für`s Studium in die Tasche. Es geht mir gut, der Unfall ist irgendwie weit weg, bis auf den Blechschaden ist ja auch nichts passiert.

Ich muss kurz in den Vorratsraum, um etwas zu holen. Plötzlich wird mir heiß. Mein Herz hämmert mächtig und wild, mein Brustkorb will auseinanderspringen. Mir ist so heiß, ich brenne. Mein ganzer Körper bebt. Wie von Dämonen besetzt, zucken sämtliche Glieder. Ich zappele wie eine Marionette, fremdgesteuert und ohne Kontrolle über meine Gliedmaßen. Gleich zerspringe ich in unzählige kleine Scherben. Mein Kopf dröhnt, mir wird schwindelig. Ich kann kaum atmen, meine Zähne klappern unkontrolliert aufeinander. Ich hocke mich nieder, presse meinen Rücken an die Wand, umschließe meine Knie fest mit meinen Armen und drücke die Stirn dagegen. Ich versuche, die Dämonen irgendwie zu bändigen, die Kontrolle  über meinen Körper zurückzugewinnen.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze. Als es vorbei ist, bin ich schweißgebadet, fühle mich unendlich müde. Am liebsten möchte ich mich direkt auf die kalten Fliesen legen und schlafen, einfach nur die Augen schließen und schlafen. Ich stehe auf, wasche mir das Gesicht und die Hände mit kaltem Wasser und gehe wieder nach vorne. Die Kunden warten schon.

Wochen später. Die Ermittlungen der Polizei „in Sachen Fahrerflucht“ laufen ins Leere. Mein Vater hat mehr Erfolg bei seinen Recherchen. Er macht den flüchtigen Fahrer ausfindig. Der wird angeklagt und ihm wird auf Lebenszeit der Führerschein entzogen.

Meinen Vater nennen wir seitdem nur noch ‚der Pate‘.

 

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