Von Christian Günther
Die Sonne schien durch das Fenster des Wagons. Später Nachmittag, Viertel vor fünf. Bald endete unsere dreiundzwanzigminütige Fahrt, die am Bahnhof Traunstein gestartet war. Ich ließ einen Blick durch den Wagon schweifen, nur wenige Gäste. Ein Rentner las das Traunsteiner Tagblatt, zwei junge Damen kamen sichtbar vom Sport und ein Mittvierziger von der Arbeit. Er klappte soeben seinen Laptop zu.
»Dank dir für dei Beistand.« Ich sah zu meiner jungen Begleitung gegenüber, die rückwärts sitzend fuhr. Bekleidet mit einer grauen Jeans und einem roten T-Shirt.
Die Achtundzwanzigjährige erwiderte meinen Blick mit ihren gräulich-bräunlichen Augen. »Des woar die Idee vom Chef. Aber i hobs gern gmocht. Ned, weil des als Arbeitszeit gilt.« Sie zog ihren dunkelblonden Zopf nach vorne über die Schulter.
Wie oft ich diese Strecke schon gefahren war, konnte ich nach gut fünfundzwanzig Dienstjahren nicht mehr sagen. Auftritte vor Gericht konnten als Polizist immer anstehen. Nur meist war ich dann beruflich Zeuge, nicht zusätzlich Betroffener wie in diesem Falle. Ich glaubte der Beschuldigten. Hatte ich ihr mit meiner Aussage helfen können? Es war meine Idee gewesen, sich zu stellen und nicht zu flüchten. Sie hatte mir vertraut.
»Des host aber nett gsogt, Miri.«
»Des hob i ehrlich gsogt, Mike.«
»Nix anderes hob i mir denkt.«
Sie nickte schmunzelnd und blickte aus dem Fenster. »Glei samma do, dann hod dieser Tog a End.«
Der Zug bremste bereits, wir konnten den Steig des Ruhpoldinger Bahnhofs sehen. Es standen nicht viele Menschen dort.
»Wos is jetza?«, fragte Miriam überrascht.
»Warum bremst der ned weida?«, erwiderte ich.
»Des is a Kopfbahnhof, hier gehts neda weida.«
In diesem Moment rumpelte es vorne laut. Von etwa dreißig spontan auf null! Wir wurden kräftig durchgeschüttelt, als der Wagon auf die Lok stieß. Ich konnte mich gerade noch auf meinem Sitz halten, aber Sporttaschen, ein Laptop und ein Stock polterten auf den Boden.
Gespenstische Stille setzte ein.
Eine der Sportlerinnen saß am nächsten zur Tür und wollte sie öffnen. Doch keine Reaktion, nicht freigeschaltet.
Miriams Blick fixierte einen kleinen Hammer neben der Scheibe. »Geht ned anders!« Sie löste ihn und schlug vor die Scheibe. »Is do grechtfertigt, oda?«
»Des frogst aber früh«, bemerkte ich grinsend.
Die zweite Sportlerin folgte unserem Beispiel, während ein Ehepaar mit etwa zehnjährigem Kind vor ihrer Scheibe auftauchte. Als große Teile entfernt waren, hielten sie ihr die Hand hin.
»Pass auf, Mike, scharfe Kanten!«, warnte Miriam mich und stieg zuerst mit ihrem linken Fuß auf den Rahmen. Ich stützte den Po ab und sie duckte sich, bevor sie sprang. Allein bevorzugte ich es rückwärts, wobei ich ihre Hand unter meiner Schulter spürte.
Der alte Mann saß unbeirrt auf seinem Sitz. Ihn brachte die Situation nicht in Aufregung. Der Laptop-Besitzer war auf den Knien gelandet und richtete sich auf, das Gerät mit aufhebend.
»Nach vorn!« Miriam rannte los, an den zwei Sportlerinnen vorbei. Ich folgte ihr bis zur Lok. Das einzige seitliche Fenster, ein sehr kleines dazu, lag weit über ihr. »Konnst mir …?«
Ich faltete meine Hände zu einer Räuberleiter zusammen – und hoch! »Sixt wos, Miri?«
»Der is bewusstlos.« Sie hämmerte mit der Faust vor die Scheibe. »Hey! Reagiert ned!«
»Ich ruf die Rettung«, teilte eine der Sportlerinnen mit und griff zu ihrem Handy.
Die zweite sah suchend über den Bahnsteig. »Feuerlöscher, hart genug?«
»Probiern mirs«, antwortete ich.
Sie reichte ihn Miriam hoch und stützte sie zusätzlich ab. Zwei dumpfe Schläge, dann ein lautes Klirren, die Scheibe zersplitterte. Den Löscher warf sie zur Seite weg.
»Kimmst da durch?«, fragte ich.
»Passt scho! Stück höher, Mike!«
Der Laptop-Besitzer kam noch hinzu. Mit vereinten Kräften schafften wir es zu dritt. Miriam hob ihr T-Shirt an und rollte es zusammen, um den Stoff auf den Rahmen mit den Splitterresten zu legen.
»Schiebts!«, rief sie. »Jaaaaah! Drin!«
»Bist okay, Miri?«, erkundigte ich mich.
»Bisserl hart, die Landung, aber okay.«
»Für mi is des Fenster zu eng.«
»Steh mir nur bei wie i dir.«
Die Minuten vergingen, Miriams Atem wurde immer lauter. Ich hatte selber schon öfters reanimiert und wusste wie anstrengend das war.
Vor dem Bahnhofsgebäude verstummte Martinshorn, gleichzeitig mit der Rettung kamen Bahnmitarbeiter herbeigerannt.
»Wissens, wie man do einikimmt?«, fragte ich.
»Jo, freilich!«
Der Notarzt und ein Sanitäter konnten Miriam ablösen. Sie war nass geschwitzt, als sie wieder neben mir stand. »Dank dir für dei Beistand, Mike.«
»I hobs gern gmocht, Miri.«
*
Am nächsten Tag saßen wir wieder mit Polizeiuniform vor unseren Schreibtischen im Revier. Es klopfte und Maximilian, der Chef, kam lächelnd mit dem aktuellen Traunsteiner Tagblatt herein.
»Habt ihr mir was verschwiegen?«, wollte er wissen und tippte auf die Überschrift der Titelseite: »Medizinischer Notfall: Junges Ehepaar rettet Lokführer.«
»Was sogst denn du dazua, verehrteste Miri?«
»Du host di guad gholtn für dei siebenundvierzig Johr, Mike! Sonst hätt da wohl Vater-Tochter-Gespann gestanden, gä?«
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