Von Ursula Kollasch

„Extra-Blatt! Gefährlicher Mörder aus dem Newgate-Gefängnis entflohen! Extra-Blatt!“
Der Junge mit dem schmutzigen Gesicht unter der Ballonmütze streifte mich, als er wie ein Wiesel durch die Wartenden auf einen Käufer zu huschte.
Ich überlegte, ihn ebenfalls zu rufen, um eine Ausgabe zu erstehen, unterließ es aber, als ich das Quietschen der Bremsen des Zuges vernahm, der in die Victoria Station einfuhr.
Der Rauch der Lokomotive umhüllte uns am Bahnsteig wie ein stinkender Mantel.
Nichtsahnend, was mich an diesem Oktoberabend auf der Fahrt erwartete, stieg ich wie gewohnt in den Zug, der mich nach der Arbeit im Herzen von London zu meinen Wohnort Surrey bringen sollte.
Ich schob mich mit eleganten Damen und Herren über den engen, mit dunklem Holz getäfelten Gang der Ersten Klasse und linste durch die Scheiben der Abteile.
Viele waren bereits besetzt. Endlich kam ich zu einem Separee, in dem zu meiner Freude nur eine einzige Person saß und zog die Tür auf.
„Guten Abend, Sir“, grüßte ich den Gentleman mit Zylinder und Backenbart, in mittleren Jahren wie ich, der in einer Zeitung las, und lüftete kurz meinen Bowler. Er erwiderte meinen Gruß mit höflichem Nicken. Ich stellte meine Arzttasche auf die Gepäckablage und nahm ihm gegenüber Platz, während der Herr schon wieder in seine Lektüre vertieft war.
Ein schriller Pfiff ertönte, die Eisenbahn setzte sich schnaufend in Bewegung und nahm Fahrt auf. Gedankenverloren betrachtete ich die vorbeiziehenden Häuserfronten, ließ den Tag in der Praxis Revue passieren.
Bis ich nach einer Weile im Sitz auffuhr. Warum hielt der Zug heute nicht an den üblichen Londoner Bahnhöfen? Stattdessen ratterte er aus der Stadt hinaus, als ob er von einer unsichtbaren Hand gelenkt wurde, die ihn in die Dunkelheit des Ungewissen führte. Draußen zogen nun Felder, Wiesen und graue Wolken am Abendhimmel wie ein verwischtes Gemälde vorüber. Würde der Zug auch an Surrey vorbeirasen?
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meiner Brust aus.
„Pardon, warum halten wir nirgendwo?“, fragte ich. „Seltsam auch, dass noch kein Schaffner kam, um unsere Tickets zu entwerten.“
Der Gentleman schien ebenso alarmiert zu sein wie ich.  
„Ich werde mich erkundigen, was hier los ist.“ Er klemmte die Zeitung ins Gepäcknetz, erhob sich und trat hinaus auf den Gang.  
Nach kurzem Zögern entschied ich, mich ebenfalls auf die Suche nach jemandem zu machen, der Auskunft geben könnte.
Passagiere standen vor den Abteilen, in Gespräche vertieft. Leises, aufgeregtes Murmeln hing in der Luft. Da zerfetzte ein beängstigendes Geräusch die monotone Melodie des Zuges – ein Schrei, der wie ein durchdringender Pfeil in die Trommelfelle stach. Rufe des Entsetzens folgten.
Ich drängte mich mit knappen Entschuldigungen an den Herren und den Damen in ausladenden Kleidern vorbei, bis zum Ende des Waggons, wo sich eine Gruppe um jemanden scharte, der reglos auf dem Boden lag. Der Schaffner!
Sanft schob ich eine Lady im Samtmantel zur Seite, ging neben dem Uniformierten auf die Knie und prüfte seinen Puls. Oh Gott, er war tot! Seine wachsbleichen Züge und das Blut, das sich wie ein roter Teppich um ihn ausbreitete, machten ihn zu einem grotesken Anblick. Ein Schauer lief mir gleich Spinnenbeinen über den Rücken, als ich – kopfschüttelnd – in die schockierten Gesichter der Umstehenden aufsah.
„Ladies und Gentlemen, treten Sie bitte zurück und bewahren Sie Ruhe“, forderte eine männliche Stimme. „Sie da, Sir, auf dem Boden, sind Sie Arzt?“
Ich bejahte und erhob mich. „Dr. James Ward“, stellte ich mich vor.
„Inspector John Lesley, Scotland Yard“, gab der recht junge Mann zurück. „Ist der Verletzte noch zu retten?“
Seine einfache, aber saubere Kleidung bestätigte seinen niedrigeren Rang als Polizist. Dennoch, obwohl er sich nun hier, in einem Waggon der Ersten Klasse, in ihm übergeordneter Gesellschaft befand, zeigte sein Gesicht einen strengen Ausdruck und seinen wachen blauen Augen schien nichts zu entgehen.
„Nein, Inspector, der Mann ist tot. Erstochen, mitten ins Herz.“
Eine ältere Dame mit einem großen Hut gab einen erstickten Laut von sich, andere tuschelten erregt.
„Hat jemand den Vorfall oder etwas Auffälliges beobachtet?“, fragte Lesley in die Runde. Niemand antwortete, einige schüttelten nur leicht die Köpfe.
„Sie alle begeben sich nun umgehend zurück in Ihre Abteile“, fuhr er mit befehlsgewohnter Stimme fort. „Ich werde Sie nacheinander aufsuchen und befragen, vielleicht weiß doch noch jemand etwas Erhellendes zu berichten. Sie, Doktor, bleiben bei mir.“
„In Ordnung. Wir sollten den zweiten Schaffner verständigen.“
„Ja, wo steckt der bloß? Und warum stoppt dieser Zug nicht?“, raunte der Inspector mir zu, während die Damen und Herren sich in ihre Separees zurückzogen.
Mir fielen die Rufe des Zeitungsjungen ein. „Wissen Sie, dass aus Newgate ein Mörder entflohen ist? Könnte er …“
„Psst!“, zischte Lesley. „Schüren Sie nicht noch mehr Panik! Egal, wer das getan hat: Wir müssen den Mörder finden, bevor wir wieder halten. Er wird nach wie vor unter uns sein. Suchen Sie den anderen Schaffner, ich beginne hier mit der Befragung.“
Damit betrat er das nächstgelegene Abteil und ich eilte hinüber in den überfüllten Waggon der Zweiten Klasse. Hier schrien die einfachen Leute aufgebracht durcheinander, kaum einer vernahm meine Frage nach dem Schaffner. Allein eine Frau wies zur Tür des nächsten Waggons. „Er is‘ da rüber, is‘ noch nich‘ lang her“, nuschelte sie.
Zu meinem Entsetzen fand ich den zweiten Schaffner zusammengesunken auf der Herrentoilette, mit gebrochenen Augen. Ebenfalls erstochen. Ich schauderte, fühlte Übelkeit in der Kehle aufsteigen, wie mir die Knie weich wurden, doch ich musste jetzt Nerven bewahren. Mit klopfendem Herzen verschloss ich die Tür, steckte den Schlüssel ein und hastete zurück in die Erste Klasse, zum Inspector. Mich zur Ruhe mahnend flüsterte ich ihm meine grausige Entdeckung ins Ohr. Er versteifte sich kurz, atmete durch, dann lobte er mich leise für die Umsichtigkeit, den Fundort verriegelt zu haben.
Als Polizist blieb er professionell, scheinbar war ihm kein Verbrechen fremd.
Mich überkam ein unguter Verdacht.
„Soll ich mich zur Lok begeben, um nach dem Fahrer zu sehen? Nicht, dass auch er …“, flüsterte ich, den letzten Satz unvollendet lassend. Lesley würde auch so wissen, was ich meinte.
„Nein“, wisperte er. „Bleiben Sie. Falls ich den Täter entlarve, brauche ich möglicherweise Ihre Unterstützung, ihn zu überwältigen, bevor er noch eine Geisel nimmt oder Schlimmeres. Behalten Sie alle gut im Auge, Doktor!“
Er wies einen anderen Gentleman an, sich auf den Weg zur Lok zu machen.
Weiter ratterte der Zug, die Zeit schien stillzustehen.
Die angstvolle Atmosphäre in den Abteilen war so dicht wie der abendliche Nebel über der Themse. Während der Inspector die Fahrgäste befragte, fühlte ich mich wie ein Schatten, der in der Ecke stand und beobachtete. Jeder schien ein Alibi zu haben, doch ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass einer von ihnen lügen musste.
Mein Misstrauen wuchs, als mir eine junge, zierliche Frau auffiel, die nervös an ihrem dunklen Cape nestelte. Darunter trug sie ein schlichtes graues Kleid, sie sah aus wie eine Gouvernante, doch befand sich kein Kind in ihrer Obhut. Sie ließ den Inspector nicht aus den Augen. Ich spürte, dass mit ihr etwas nicht stimmte, näherte mich ihr und flüsterte: „Sie wissen doch etwas!“
Sie zuckte zusammen, ihre Augen weiteten sich, ehe sie aufsprang und mit der Schnelligkeit einer Katze auf den Gang hinaushuschte, um im nächsten Waggon zu verschwinden.
War sie eine Komplizin des Mörders? Ich nahm die Verfolgung auf, blieb aber nach wenigen Schritten stehen, denn plötzlich setzten sich die Informationen wie Puzzleteile zusammen. Statt die mysteriöse Frau zu jagen, trat ich auf den Inspector zu und nahm ihn beiseite.
„Ich gehe kurz zurück in mein Abteil“, sagte ich aufgeregt. „Der Gentleman, mit dem ich es mir teile, hat das Extra-Blatt gekauft, vielleicht ist darin ein Bild des Mörders!“
„Exzellente Idee“, raunte Lesley. „Vorwärts, ich begleite Sie.“
Ich hastete ihm voran über den Gang, in das leere Separee und zerrte die Zeitung aus dem Gepäcknetz. Schlug sie auf.
Um beim Anblick der Fotografie auf Seite zwei zu erstarren. Ich spürte, wie mir das Blut aus den Wangen wich. Zeitgleich wurde mir eiskalt.
„Oh, Volltreffer!“, murmelte der Inspector direkt hinter mir. Mit seltsamem Unterton. Ich wandte mich zu ihm um, schaute in seine triumphierende Miene.
Im selben Moment erstarb sein Grinsen und wich Erstaunen, bevor er zusammensackte.
Im Türrahmen ragte der Gentleman auf, der trotz – des falschen? – Backenbartes der Fotografie so ähnelte. Er hielt ein Messer in der Hand, Blut tropfte von der Klinge. In seinen Augen lag ein irrer Glanz.  
„Bitte, nicht …“ Ich wich zurück, stieß mit dem Rücken ans Fenster.  
„Gut, dass ich euch beide im Auge behielt, während ich alle Zeitungen einkassierte. Statt eines toten Lokführers sind‘s nun mehrere Leichen … Pech, die verfluchte Presse ist schuld“, resümierte er kalt, um dann unerwartet vorzuschießen und mir zwei Mal in den Bauch zu stechen. Fassungslos rang ich nach Atem, presste mir die Hände auf den Unterleib. Der Schmerz war überwältigend, während er mich packte, neben Lesleys Leiche auf dem Boden ablegte und mit etwas wie Bedauern auf mich hinabsah.  
„Ach, Doc, hättest besser meine Verlobte verfolgt. Oder bei meinem Bruder in der Lok angeklopft … dem ähnelst du sehr, darum kein Stich ins Herz. In Kürze wirst du das Bewusstsein verlieren, unseren Abgang hier nicht mehr mitbekommen. Aber wenn man dich rechtzeitig findet, überlebst du’s immerhin.“
Damit verließ er das Abteil.
Ich wollte um Hilfe schreien, aber aus meiner Kehle kam nur ein Krächzen.  Der Inspector glotzte mich aus leeren Augen an. Ich schmeckte Kupfer, roch den Eisengeruch unseres sich ausbreitenden Blutes und spürte dessen feuchte Wärme unter mir, während alles um mich herum verschwamm.
Dann glitt ich in die Dunkelheit.

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