Von Sonja Gröhler
Ich blickte aus dem Fenster des Zuges. Der Arbeitstag war heute besonders anstrengend gewesen. Dem Chef war aufgefallen, dass die Bestellzahlen des Call-Centers gesunken waren. Entsprechend schlecht gelaunt war er. Jeder wurde zu ihm rein gerufen zum Rapport, ich als letzte. Es war ein unangenehmes Gespräch, und ich war froh, als endlich Feierabend war. Ich freute mich schon auf die Kinder. Mein Mann hatte heute frei und rief an: „Überraschung! Ich mache für uns heute Bratkartoffeln! Und zum Nachtisch Vanilleeis mit frischen Heidelbeeren. Bist Du schon auf dem Weg, Ute?“ Ich freute mich: „Lecker. Ich beeile mich, Michael. Ich bin etwas spät dran und wohl erst in einer Stunde da.“
Vorher musste ich noch unsere jüngste Tochter, Marie, vom Kindergarten abholen. Sie war erst vier Jahre alt und meist voller Energie. „Mama, wir waren heute den ganzen Tag draußen auf dem Wasser-Spielplatz. Das war toll! Ich bin ja soooo müde!“ Sie kuschelte sich auf dem Sitz an mich. Gleich darauf hörte ich ihre tiefen, gleichmäßigen Atemzüge. Sie schlief.
Es war sommerlich warm und stickig. Auch mir fielen vor Erschöpfung fast die Augen zu. Wo waren wir noch eben? U3 – Mundsburg. Die nächste Station musste ich aussteigen. Da hörte ich eine Durchsage: „Liebe Fahrgäste, wegen eines Polizeieinsatzes hält der Zug heute nicht in der Hamburger Straße. Bitte nutzen Sie Umstiegsmöglichkeiten an den nächsten Stationen.“
„Auch das noch!“ Als die Bahn endlich hielt, weckte ich Marie sanft, und wir stiegen aus. „Komisch“, wunderte ich mich, „sind wir denn die Einzigen, die hier aussteigen?“ Der Zug fuhr ab, und ich schaute mich auf dem Bahnsteig um. Leer, Niemand außer uns war hier. Die Gegend war mir unbekannt. „Kein Wunder, wir sind ja erst vor Kurzem hergezogen“, dachte ich.
Wie war das noch? Ich sollte die Umstiegs-Möglichkeiten an der nächsten Station nutzen? Aber gab es die hier? Ich nahm Marie an die Hand und ging zögernd ein paar Schritte zum Ausgang des Bahnhofs. Personal schien es hier nicht zu geben.
Neben dem Ausgang saß ein Bettler auf dem Boden und stierte vor sich hin. Er hielt mir einen Kaffeebecher entgegen, in dem jedoch keine Münzen lagen. Die Straße war menschenleer. Ich kramte aus meiner Tasche einen Euro hervor und warf ihn in den Becher. Der Bettler blickte auf, faltete die Handflächen zusammen und nickte dankend.
Draußen sah ich nur ein paar Häuser, die fast völlig von Efeu zugewuchert waren. „I, Mama, hier liegt überall Hundekacke auf dem Fußweg.“ „Ja, pass auf, dass Du nicht reintrittst.“
An der Straße standen zwei Dixie-Klos, aus denen es wie nach Verwesung stank. Am Wegesrand daneben erhob sich ein Müllberg, auf dem wohl einige Ihre alten Möbel, aber auch Hausmüll abgeladen hatten. Eine Ratte huschte vorbei. „Warum sind nur so viele Leute zu faul, zum Recyclinghof zu fahren?“, ging es mir durch den Kopf.
Am Ende der Straße sah ich eine kleine Brücke. Dort schien ein Wasserlauf in einen Teich zu münden. Langsam schlenderte ich mit Marie an der Hand dort hin. Ach Du je. Kein fließendes Wasser. Nur im Tümpel aufgestautes Brackwasser und Algen. Tote Fische schwammen in dem Teich, die Bäuche nach oben. Es stank.
Irgendetwas war merkwürdig. Jetzt bemerkte ich es: Es war totenstill. Kein Vogelgezwitscher. Keine anderen Geräusche. Die Luft war diesig. Es roch wie nach verbranntem Plastik.
„Mama, ich muss mal.“ Ich begleitete Marie ins Gebüsch und half ihr. „Warte einen Moment, Marie, ich muss auch.“ Marie streifte singend zwischen den Büschen auf der Wiese umher. „Marie, komm jetzt“, rief ich sie, als ich fertig war. Marie kam lachend auf mich zu und streckte mir Ihr Händchen entgegen. „Mama, für Dich.“ Täuschte ich mich, oder schwankte sie etwas? Ich blickte auf die Beeren in ihrer Hand. O, nein! Tollkirschen! „Marie, hast Du davon gegessen?“ „ja, Mama, aber nur ein paar. Die Heidelbeeren sind richtig lecker.“ Marie schwankte. „Mama, ich kann nicht mehr. Trägst Du mich?“ Und schon fiel sie in meine Arme.
Tränen liefen mir übers Gesicht. Mein Puls raste. Ich schüttelte Marie. Sie atmete kaum noch. Panik erfasste mich. Sie wird sterben! Ich schrie verzweifelt „Hilfe! Hört mich denn Keiner? Hilfe!“
„Hallo, hallo! Wachen Sie auf! Sie sind doch Frau Schmidt? Ich bin Herr Müller, Ihr Nachbar vom Haus Nr. 48. Sie müssen hier aussteigen!“ Verwirrt öffnete ich die Augen und blickte schräg nach oben in ein besorgtes Gesicht. „Oh, ja, danke Herr Müller.“
Meine Güte, was für ein Albtraum das war. Ich beeilte mich, Marie wachzurütteln, fasste ihre Hand und zog sie zur Tür. Wir sprangen gerade noch aus der Bahn, bevor die Türen sich wieder schlossen. Tatsächlich, ich hatte nur geträumt, wir waren an der richtigen Station. Herr Müller verabschiedete sich, weil er auf dem Nachhauseweg noch einkaufen wollte.
Am Bahnhofsausgang saß ein Bettler, den ich hier öfter gesehen hatte. Er schien zu schlafen. Ich warf eine Münze in den Becher vor ihm. Draußen auf dem Fußweg lag Hundekacke. Wir liefen an einer Baustelle vorbei. Daneben stand ein Dixie-Klo, aus dem bestialischen Gestank dünstete. An den Bäumen am Wegesrand wehten gelbe Zettel „Vorsicht Rattengift!“ „Kein Wunder, dass ich so verrückt träume, das hat mein Unterbewußtsein ja toll zusammengeschustert“, sinnierte ich.
Mein Handy klingelte, und ich ließ Marie los, um es aus der Tasche zu holen. „Ute, wo bleibt ihr? Wir haben Hunger, und das Essen ist fertig“, vernahm ich die vertraute Stimme meines Mannes. „Hallo Michael, sorry, wir sind gleich da.“
Ich legte auf und erstarrte vor Schreck. Panisch blickte ich mich um. Wo war Marie? Sie war in einen kleinen Pfad zwischen den Büschen abgebogen und sammelte dort Beeren. Gerade wollte sie eine in den Mund stecken. „Marie, nein!“, rief ich so laut ich konnte und sprintete los zu ihr.
Ich fühlte mich schwindelig und mein Herz raste. Plötzlich stiegen Bilder in mir auf. Erinnerungen, die tief in mir geschlummert haben mussten und nun wieder hochkamen. Ich sah mich auf einem weiß bezogenen Bett liegen. Ich war erst etwa vier Jahre alt. Es war als schwebte ich einen Moment über mir. Um mich herum hantierten in weißen Kitteln gekleidete Männer. Ich hörte Wortfetzen, deren Sinn ich nicht verstand: „… Tollkirschen … Vergiftung ….“ Mir war glühend heiß. Ich atmete sehr flach und bekam fast keine Luft. Meine Mutter saß weinend neben mir und hielt meine Hand. Ich fühlte mich irgendwie schuldig: „Mama, die Heidelbeeren haben lecker geschmeckt. Weinst Du, weil ich Dir keine mitgebracht habe?“
Kurz davor, ohnmächtig zu werden, zwang ich mich den letzten Meter zu Marie zurückzulegen. Marie vor dem Schlimmsten zu bewahren, das war jetzt alles was zählte.
„Marie, Zeig mal.“ Gott sei Dank. Sie hatte noch nichts davon im Mund. Ich kniete mich zu ihr und beeilte mich, ihr zu erklären: „Marie, Du darfst nie einfach irgendetwas am Wegesrand essen. Es kann giftig sein. Wenn Du davon isst, kannst Du dolle Bauchschmerzen bekommen oder sogar sterben. Versprichst Du mir, dass Du das niemals machst?“ „Ja, Mama. Meinst Du, so wie Schneewittchen, als sie den Apfel von der bösen Hexe aß?“ Jetzt weinte sie fast: „Aber die Beeren sehen doch so lecker aus.“ Ich versuchte sie zu trösten: „Du hast Glück, Papa hat Heidelbeeren gekauft. Die essen wir heute zum Nachtisch. Jetzt schauen wir uns zusammen an, was Du gesammelt hast.“
Vorsichtig nahm ich ihr die Beeren aus der Hand. Es waren Brombeeren.
Version 2