Von Ina Rieder

Mein Mund fühlte sich trocken an, meine Kleidung klebte an mir und meine Laune war auf den Tiefpunkt gesunken. Ich stand irgendwo im nirgendwo, eine Laptop-Tasche in der Hand und blickte mich um. Kein Schild, das mir verriet, wo ich war, grün in allen Facetten, dicht bewachsene Berge und Wälder, soweit das Auge reichte. Aber irgendwie kam mir die Umgebung auch merkwürdig vertraut vor. 

Wäre ich nur sitzengeblieben!

Am Bahnsteig war es grabestill. Kein Schalter, keine Bediensteten, keine Menschenseele. Außer mir schien niemand den Zug verlassen zu haben. 

„Endstation!“, hatte es noch fünf Minuten zuvor durch die Lautsprecher getönt. 

Die mechanisch klingende Stimme hatte mich jäh aus einem tiefen Schlaf gerissen. Benommen hatte ich meine Sachen gepackt und war ausgestiegen. Und dann erst dämmerte mir:

Ich war sicher nicht in Triest! Eher irgendwo im Landesinneren, vielleicht sogar in Kroatien.

Fieberhaft überlegte ich, ob es nun so weit war, und sich mein Verstand auflöste. Ich hatte das bei meiner Mutter miterlebt, Diagnose: Hirnschwund weit fortgeschritten mit 58, in den Windeln und vollkommen benebelt mit 65, mit 67 ins Hospiz. Die Stimme meines Arztes dröhnte in meinen Ohren: „Sie müssen kürzertreten, ihr Blutdruck spielt verrückt!“ 

Doch ich war nicht der Typ Frau, der kürzer trat, sich zurücklehnte und sich Chancen entgehen ließ. 

Ich war mir sicher, am Morgen, in den richtigen Zug gestiegen zu sein – erste Klasse, Sitzplatzreservierung wie immer. 

Ich zückte mein Handy, schaute auf das Display. 

Verdammt!

Kein Netz. Das Phone neu gestartet, starrte ich in die linke obere Ecke auf den Kreisel, der eine Verbindung suchte. Fehlanzeige. 

Das Hearing für meine Bewerbung in den Vorstand der Bank konnte ich nun vergessen. Selbst mit einem Taxi würde ich es nicht mehr schaffen. 

Die Sonne stand im Zenit, brannte auf mich herab, meine Beine fühlten sich geschwollen an und am Hinterkopf kündigte sich bereits eine Migräne an. 

Vom Schicksal gegrillt, waberte es durch meine Gehirnwindungen. Die letzte Stufe meiner Karriereleiter versemmelt.

An einem gewöhnlichen Arbeitstag hätte ich vermutlich hochwertige, bequeme Schuhe getragen, aber für das Hearing hatte ich mich in ein dunkelblaues Kostüm mit Bleistiftrock und Sakko gezwängt und dazu passende hohe Schuhe gewählt. Die Absätze klackerten über den asphaltierten Boden, der etliche Erhöhungen und teilweise Risse aufwies, aus denen diverse Pflanzen sprossen. Ich suchte das Bahnhofshäuschen, das mehr einer Bushaltestelle glich, nach einem Fahrplan ab, doch es gab keinen. Dahinter sah es nicht viel besser aus. Mein rechtes Knie machte sich bemerkbar. Resigniert zog ich meine Highheels aus, quälte mich aus der engen Strumpfhose und setzte mich in den Schatten. 

Irgendwann wird wohl wieder ein Zug kommen!

Ich weiß nicht mehr genau, wie lange ich so dasaß, es schien mir wie eine Ewigkeit und mein Verlangen nach einem Schluck Wasser kam mir inzwischen größer als der ersehnte Sitz im Vorstand vor. Plötzlich dämmerte mir, wo ich war. Livadanien, der Ort, in dem meine Mutter geboren war. Als ich noch klein war, besuchten wir hier öfter meine Großmutter.  

Während ich so vor mich hin sinnierte, glaubte ich eine Bewegung im gegenüberliegenden Wald wahrgenommen zu haben. Ich richtete mich auf, meine Augen wanderten über das Umland und dann sah ich plötzlich eine Frau mittleren Alters, die aus dem Schatten des Dickichts trat.

„Hallo!“

Als sie meine Stimme hörte, blieb sie kurz stehen und schaute zu mir herüber. Ich ging barfüßig auf sie zu. 

„Entschuldigen Sie, wissen Sie, wo wir hier sind?“

Die Fremde, mit den kurzen, schwarzen Haaren, war mittlerweile nur noch wenige Meter von mir entfernt. 

„Allerdings weiß ich das! Kein Ort, an dem Sie sein sollten und auch nicht sein wollen!“

„Wem sagen sie das. Ich warte hier schon seit Stunden auf den nächsten Zug.“

Die Frau runzelte ihre Stirn.

„Sie kommen heute nicht mehr weg und ohne mich auch nicht mehr lebendig hier raus.“ 

Ein eiskalter Schauder überzog meinen Körper. Ich musterte sie genau. Sie kam mir nicht so vor, als hätte sie den Verstand verloren oder wäre unter Drogeneinfluss. 

„Wie meinen Sie das?“

Die Unbekannte nahm ihren Rucksack ab, zog eine Trinkflasche aus der Seitentasche und überreichte Sie mir.

„Sie sehen aus, als könnten Sie einen Schluck gebrauchen.“

Ich nahm sie erleichtert entgegen.

„Ich bin am Verdursten!“

„Trinken Sie ruhig. Ich habe noch eine.“

Gierig setzte ich zum Trinken an und löschte meinen Durst.

„Sie schulden mir noch eine Antwort.“

„Sie glauben mir ja doch nicht, wenn ich Ihnen sage, dass sie ohne es zu Wissen Marinos Ruf gefolgt sind. Er sucht sich immer die geschundenen Seelen aus. Noch zwei Stunden, dann beginnt die Dämmerung und dann kommen auch die anderen, wie die Maden aus dem Speck.“

Obwohl ich noch weniger verstand als zuvor, wurde mir mulmig zu Mute. Ich spürte einen unangenehmen Druck auf meiner Brust und eine Enge um meinen Hals. 

„Kommen Sie. Wir müssen weg von hier.“

Obwohl ich von Natur aus kritisch war, flüsterte meine innere Stimme mir zu, dass ich keine andere Wahl hatte. Bewaffnet mit meinen Stöckelschuhen und der Lap-Top-Tasche folgte ich ihr. 

„Wohin gehen wir und wie heißen Sie?“

„Ich heiße Vesna. Sehen sie die Höhleneingänge? Da oben.“ 

Sie blieb stehen und zeigte gegenüber auf einen Berg. Ich nickte. 

„Da müssen wir vor Einbruch der Dämmerung sein!“ 

Vesna ging schnellen Schrittes weiter und ich versuchte, ihr zu folgen. Kleine Steinchen bohrten sich in meine zarten Fußsohlen und ich zuckte zusammen.

„Wie soll ich das schaffen? Ohne Schuhe?“, schrie ich ihr hinterher und bemerkte, wie sich Verzweiflung in mir ausbreitete und Tränen auf meine Wangen perlten.

Sie blieb stehen, nahm den Rucksack ab und kramte in dessen Inneren.

„Na also!“, sagte sie triumphierend und warf mir ein Paar dicker Wintersocken zu. „In den Höhlen ist es kalt. Da kann man die bitternötig gebrauchen. Ist nicht ideal, aber es müsste gehen.“

Ich schlüpfte in die selbstgestrickten Strümpfe. 

***

Marino richtete seinen Blick in den Himmel und betrachtete das Farbenspiel über Livadanien. Bald schon würde die Nacht hereinbrechen und der Landstrich, der wie ausgestorben wirkte, zum Leben erwachen.

Seine Augen wanderten in die Ferne und glitten über die umliegenden Wälder. Plötzlich erstarrte er und kniff seine Augen zusammen. Sofort stellten sich diese scharf, wie jene eines Adlers.

„Diese vermaledeite, unfähige …!“ Marino brach mitten im Satz ab und sah gerade noch, wie Vesna mit einem menschlichen Wesen in der Höhle gegenüber verschwand. Der einzige Ort, den er nicht betreten konnte, weil ihre Macht stärker war als seine.

Vesna war seine abtrünnige Tochter. Das Mischwesen, das er am meisten liebte und zugleich seine größte Schwachstelle darstellte. Marinos Gedanken schweiften ab zu jenem Abend vor 100 Jahren, als er Vesnas Mutter im Dorf zum ersten Mal sah. Damals hatte er gerade erst begonnen, mit der Verwandlung der Menschen in Schattenwesen. Ihre energische Art beim Abbau des Marktstandes kurz nach Sonnenuntergang fiel ihm sofort auf. Er beobachtete Sie eine Weile. Sie war keine Schönheit im klassischen Sinne. Klein und mollig, aber sie hatte dieses gewisse Etwas, ein Funkeln in den Augen.

Noch in jener Nacht musste er sie haben. Niemand konnte seinem Charme widerstehen. Auch sie nicht. Marino war so fasziniert von ihr, dass er es an besagtem Abend nicht übers Herz brachte sie in ein Schattenwesen zu verwandeln, wie er es sonst mit allen menschlichen Wesen tat, denen er seine Zunge tief in den Rachen steckte und ihnen alles Menschliche aus dem Körper saugte. Und auch die Wochen und Monate danach versagte er.

Dann kam Vesna auf die Welt, ein Mischwesen. Halb Mensch, halb Schattenwesen. Im Gegensatz zu ihm konnte sie sich auch tagsüber problemlos fortbewegen, während er warten musste, bis sich die Sonne senkte, um in seiner vollen Kraft und Macht zu sein.

Marino zuckte zusammen und drehte seinen Kopf. Er sah in die dunklen Augen seiner Angebeteten und sein Körper entspannte sich sogleich wieder.

„Sie kann es einfach nicht lassen!“, sagte er und seufzend. „Sie hat wieder einen in ihre Höhle gebracht. Weiss der Teufel, wie viele ihrer Art es mittlerweile gibt.“

„Sie ist, wer sie ist. Sie wandert umher …“

„Hör auf, mich zu belehren!“, unterbrach Marino seine Frau. „Als, wenn ich das nicht wüsste!“

***

In der Höhle war es dunkel, kalt und feucht. Ich saß Vesna auf einem mit Schafsfellen drapierten Sofa gegenüber und lauschte seit mehr als einer Stunde ihren Worten. 

„Ich könnte dich morgen wieder zurückbringen, in dein altes Leben, oder aber ich verwandle dich in ein Wesen, halb Mensch und halb Schattenwesen …“

Sie erzählte mir von den Vampiren, wie sie die Jahrhunderte überdauert hatten, den Weg nach Livadanien gefunden und sich weiterentwickelt hatten. Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider, während ich mit mir rang.

Sollte ich mein Menschenleben fortführen, meine Karriere im Vorstand der Bank weiterverfolgen? Oder sollte ich ein neues, unsterbliches Leben beginnen, mit Kräften, die ich mir nicht hätte vorstellen können? Nie wieder Migräne, kein Leiden mehr!

Die Entscheidung schien unmöglich. Die Kälte der Höhle kroch in meine Knochen, und ich spürte die Schwere der Wahl auf meinen Schultern. Vesna sah mich mit ihren durchdringenden Augen an, als könnte sie meine Gedanken lesen.

„Die Unsterblichkeit hat ihren Preis“, sagte sie leise. „Aber sie bietet auch Möglichkeiten, die ein menschliches Leben nie bieten kann. Der Mensch wird ohnehin aussterben.“

Ich schloss die Augen, atmete tief ein. Die Dunkelheit um mich herum schien lebendig zu werden, als ob sie mich umarmen wollte. In diesem Moment wusste ich, dass meine Entscheidung nicht nur mein Leben, sondern auch meine Seele verändern würde.

Langsam öffnete ich die Augen und sah Vesna an. „Ich bin bereit“, flüsterte ich, meine Stimme kaum hörbar. „Verwandle mich.“

Ein Lächeln huschte über Vesnas Lippen, und sie trat näher. „Willkommen in der Ewigkeit“, sagte sie, bevor die Dunkelheit mich vollständig verschlang.

V2 (10.000)