Von Sabine Rickert                                          

                                                 

Tanja hechtet mit ihrem Koffer aus dem Haus und steigt ins Taxi. Es ist schon spät, sie hat sich etwas verkalkuliert. In einer Stunde fährt ihr ICE nach Nürnberg. Ihr fehlt die Fahrkarte und Proviant. Ob sie es schaffen würde, ihren Plan umzusetzen, war nicht sicher, daher das fehlende Ticket.

Wochenlang hat sie vieles für ihren Neustart in Bayern vorbereitet. Dort wohnt ihre Freundin Agathe, die sie in der letzten Zeit bei allem intensiv unterstützte. Trotzdem hat sie das Gefühl, sie stiehlt sich davon. War das die richtige Entscheidung? Ist das nicht zu drastisch?

Sie ist am Bahnhof angekommen und hat dreißig Minuten Zeit bis zur Abfahrt.

Sie wird es ihm später erklären, obwohl sie schon etliche Male gemeinsam darüber gesprochen haben. Stundenlange Diskussionen, lange Nächte und sie kamen nie zu einer Lösung.

Jetzt schnell die Karte und etwas zu trinken besorgen.

Sie steht in einer Schlange, die ihr unendlich vorkommt. Ach, wäre sie schon im Zug, dann gäbe es kein Zurück mehr.

Sie grübelt über die letzten zwei Wochen nach:

„Er merkt mal wieder nichts, nicht wie ich mich mit der Entscheidung quäle. Seit Tagen stehe ich neben mir. Er lebt weiterhin in seiner eigenen Blase und beobachtete nur sich selber. Ich kenne ihn auswendig. Ich darf das behaupten. In der Vergangenheit hatte ich zu oft gedroht auszuziehen, ohne es zu vollenden. Wenn er keinerlei Anstalten macht, sich etwas Eigenes zu suchen, bleibt mir nichts anderes übrig. Die Klügere gibt nach, sonst werden wir beide auf Dauer unglücklich.“

Der Fahrstuhl ist kaputt! Tanja hechtet die vielen Treppen zum Gleis hoch und schnappt erst mal nach Luft.

Zwei Minuten bis der Zug kommt, zwei Minuten zum Grübeln: „Es ist nicht natürlich, dass wir zusammen hausen, obwohl jeder sein eigenes Leben lebt. Es ist schwierig, hier in der Gegend etwas zu finden, das sehe ich ein. Die Erfahrung ist mir nicht fremd. Arno zahlt die ganze Zeit die Miete, hat renoviert und einiges erneuert, obwohl ich genug verdiene. Deshalb betrachtet er diese Wohnung als seine, mit meinem Namen auf dem Mietvertrag. Das bringt uns beide nicht weiter. Ihn scheint das nicht zu stören. Meine Freunde belustigt diese WG dermaßen, es vergeht kein Treffen, bei dem ich nicht einen eingeschüttet bekomme. Ich würde gerne öfter die ehemaligen Studienkollegen einladen, zu Spieleabenden oder zum gemeinsamen Kochen. Aber immer mit Arno, der sich jedes Mal mit meinen Freunden köstlich amüsiert. Ein Date mit nach Hause zu bringen, daran denke ich erst gar nicht. Peinlich!

Ich frage mich, was seine Clique davon hält? Er hat sich nie geäußert, schweigt wie ein Grab. Sie treffen sich immer bei jemanden, nur nicht bei uns. Freundinnen bringt er ohne Skrupel mit, stellt sie vor, und das war´s dann. Ich bin gezwungen mir durch die dünnen Wände die Vergnüglichkeiten anzuhören.

Meine Freundin Agathe erwartet mich. Ich liebe Bayern! Fünfhundert Kilometer zwischen Arno und mir – ist das nicht etwas weit?“

Bei Tanja steigen wieder Zweifel auf.

Die Anzeige auf dem Gleis verändert sich. Sie traut ihren Augen nicht. Kompletter Zugausfall, aufgrund von Unwettern vor Nürnberg, die Stromausfälle und Gleisschäden verursachten.

„So ein Scheiß, hier scheint die Sonne. Was jetzt?“

Tanja benachrichtigt ihre Freundin Agathe, dass sie heute nicht mehr eintreffen wird, und läuft zum Kartenschalter für die Umbuchung.

Morgen früh um acht Uhr fährt der nächste ICE.

„Ich gehe nicht wieder nach Hause zurück!“

Tanja ruft ihre Freundin Marie an, die ebenfalls in Münster wohnt. Diese freut sich riesig, die gestrandete Ausreißerin aufzunehmen.

„Ein Mädelsabend“, schreit sie durchs Smartphone. Sie ist übereifrig, aber heute lässt Tanja sie gewähren, sie braucht Ablenkung und Spaß.

Tanjas Handy summt.

„Wo bist du?“

„Bei Marie, ich bleibe dort heute Nacht.“

„Okay, dann gehe ich einkaufen, wir haben nichts mehr.“

„Ja, mach das.“

Erst einmal steuern Marie und Tanja ihre Lieblingskneipe an und bestellen alles, was Freude macht. Heute ist Feiertag mit Wermutstropfen. Ein merkwürdiges Gefühl.

Beim Absacker angekommen, treffen Simon und Andreas ein und gesellen sich zu ihnen. Zwei langjährige Freunde von Marie und Tanja aus der Studienzeit. Sie haben zu fünft Informatik studiert und sind in Münster und Umgebung geblieben. Es fehlt nur Lisa, die im Moment im Urlaub ist.

Tanja braucht heute einige Gläser Wein, um ihre Aufbruchstimmung bei Laune zu halten. Sie würde ihre Freunde vermissen. Nach dem zweiten Weinglas kommt sie aus der Deckung und fängt an, den beiden zu erzählen, was sie in die Kneipe verschlagen hat.

Sofort bricht eine heftige Diskussion aus.

„Bei unserem letzten Treffen hast du nichts erwähnt.“

„Ist das nicht etwas krass?“

Sie verteidigt sich: „Ich brauche eine eigene Wohnung, das ist Fakt! Ihr habt doch schon so oft Witze über meine Situation gerissen. Außerdem hatte ich bislang nicht den Mut, ich habe immer befürchtet, dass es mal eine Spontantat werden wird. Sicher werdet ihr mir unsäglich fehlen.

Agathe hat sich angeboten, mir zu helfen. Sie meinte, ich brauche einen Perspektivenwechsel und genug Abstand. Homeoffice macht es mir möglich. Ist eventuell nur für eine Weile, man weiß ja nie. Ich liebe Bayern und vor allem die bayrische Küche.“

Andreas, der immer stiller wurde und zwischendurch auf seinem Handy daddelte, meldet sich aufgeregt zu Wort.

„Ich habe einen Vorschlag für dich. Unsere Firma sucht dringend einen neuen IT-Security-Spezialisten. Das ist doch dein Gebiet, oder? Die bieten eine Wohnung etwas außerhalb von Münster an und dazu einen Firmenwagen. Wie gesagt, nur eine Empfehlung!

Du bräuchtest dich nicht so weit davon stehlen. Beim Arno entwickelt sich mittlerweile beziehungstechnisch etwas Festes, wie er mir zuletzt erzählt hat. Dann brichst du ihm nicht das Herz.“

Tanjas Interesse ist geweckt. Hört sich an wie das bessere Model, wenn es klappen würde. Sie gibt ne Runde. Der Abend verspricht mehr, als sie erwartet hat. Nürnberg wird verschoben!

Am nächsten Vormittag wird sie von Andreas kontaktiert. Er hat für den Nachmittag schon ein Vorgespräch mit der Personalabteilung organisiert. Der Bedarf ist dringend, da ein Kollege von jetzt auf gleich total ausgefallen ist. Sein Pech, Tanjas Glück! Die Ironie des Schicksals.

Der Aufgabenbereich liegt genau in ihrem Interessensgebiet, sie würde sich verbessern. Die Wohnung ist fünfzehn Kilometer von Münster entfernt. Mit der Kündigungsfrist hat sie genug Zeit in Ruhe auszuziehen, ohne sich wie eine Verbrecherin aus dem Haus zu stehlen. Sie verliert ihre Freunde nicht und es gibt nur bayrische Kost wenn sie Agathe in den Ferien besucht. Besser für die Figur!

Sie fährt nach Hause und schließt die Haustür auf, da kommt Arno ihr schon strahlend entgegen.

„Mama, ich habe uns etwas Leckeres gekocht. Ein neues Rezept, Pico de Gallo – die mexikanische Tomaten-Salsa.“

Er freut sich wie ein Schulkind mit seinen einunddreißig Jahren.

„Hoffentlich spielt der Magen mit und es ist nicht zu pikant“, denkt sie.

Sie wird ihm die Freude nicht nehmen.

In einem Monat wird er flügge werden. Dann fliegt die Mutter aus dem Nest und braucht nicht mehr gefüttert werden.

 

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