Von Matthias Herrmann

Die Paartherapeutin hat dem launigen Camper und seiner Frau empfohlen den Dreifelder Weiher im Westerwald anzusteuern. Nicht im Rahmen der Beziehungsaussprache, sondern informell nach der Sitzung im Flurbereich, wo die Flyer für Astrokurse bei Steffi und wertschätzende Kommunikation bei Holger ausliegen, hieß es: „Der Dreifelder Weiher, das ist ein schöner Platz zum Zelten. Zum Runterkommen. Gerade für Paare.“ 

 

Doch vor dem Runterkommen steht das Ankommen. Und das hat es in sich. Der launige Camper will die Autobahn meiden. Nur als er die Route eingibt, werden ihm immer wieder Wege präsentiert, die Teilstücke der A 3 enthalten. Was tun? Der launige Camper drückt seiner Frau das iPhone in die Hand. 

„Bitte klamüsere du die Route aus!“, verkündet er – dabei denkend: „Warum nutze ich das Wort klamüsern, wenn ich es doch hasse.“ 

Leider führt die Frau die kleine Reisegesellschaft in die Irre. 

„Willst du nicht umdrehen, Schatz?“ 

 

Neben der Autobahn hasst der launige Camper auch das Wenden. Wenn er einmal auf ein Gleis bzw. hier auf eine Road durch den Westerwald gesetzt ist, kann er nicht herunter. Wenden? Umdrehen?  Niemals. Er fragt sich allerdings auch: Ist das schon Altersstarsinn? Einfach immer weiter. Fahren. Leben. 

Diese Charakteruneigenschaft führt jetzt dazu, dass sie im nächsten Weiler, statt zu wenden, die Hauptstraße verlassen und auf ein Sträßchen ohne Mittelmarkierung abbiegen, das durch Feld und Wiesen angeblich zum Ziel führen soll. 

Alles scheint gut zu werden, bis sich jetzt ein schwarzer Audi A6 ins Bild schiebt. Getönte Scheiben. Grelle Scheinwerfer. Die Straße sehr schmal. Der Chrysler des launigen Campers ein Dickschiff. Auch der Audi fett. Der launige Camper entdeckt auf der gegenüberliegenden Seite eine geteerte Einbuchtung. Er nimmt an: „Da wird sich der Audi hineinklemmen. Ich werde den Audi passieren können, ohne vor dem Einheimischen wie ein Leibeigner zu katzbuckeln und ausweichen zu müssen.“ 

Doch muss der launige Camper erkennen, dass der Audi die Passiersituation anders einschätzt. Statt in die sauber angelegte Ausweichbucht einzubiegen, setzt der seine stolze Fahrt fort: Welcher Westerwälder wird denn einer in die Jahre gekommenen Retro-Karosse mit milchigen Scheinwerfern und Großstadt-Nummernschild ausweichen?

Also lenkt der launige Camper ein und sein Gefährt auf das Bankett, um ein gegenseitiges Abfetzen der Seitenspiegel zu vermeiden. 

„Verfickte Audi-Fahrer!“, schreit die Frau und reckt ihren Mittelfinger durch das geöffnete Schiebedach. 

„Immer diese Diskriminierung. Bis vorletzte Woche fuhren wir auch noch einen Audi“, schießt es dem launigen Camper durch den Kopf und explodiert zur großen Bereu-Frage: „Hätte ich den Audi behalten sollen? Wäre mir der entgegenkommende A 6 ausgewichen?“ Und: „Was macht das Leben ohne Audi mit meiner Lebenszufriedenheit?“

Inzwischen blickt die Frau ängstlich in den Seitenspiegel, auf dem ein Aufkleber prankt: „Dinge im Rückspiegel sind näher, als sie im Rückspiegel erscheinen.“ Was eine Wahrheit! Wenn dem so ist, und wir in den Rückspiegel unseres Lebens blicken, erscheinen uns dann die peinlichen Verdrehtheiten , die wir auf dem Konto haben, schön weit weg. Doch in Wirklichkeit sitzen sie uns im Nacken! Sie sind da ganz groß, ganz nah, ganz mächtig! Und zwingen uns in die Knie oder auf die Couch von Herrn oder Frau Freud. Oder lügt der Aufkleber auf dem seitlichen Rückspiegel? Schnurrt unser Sündenregister zu Schnurren zusammen, die im ewigen Mahlstrom der Geschichte ungehört, ungelesen, ungesehen einfach so – piffpaff – verschwinden?

„Der dreht gleich um und verprügelt uns!“, schreit die Frau. 

„Ja, das wäre mal etwas: ´Und dann gibt es da noch die Geschichte, als sich Onkel Camper mit einem Audi-Fahrer prügelte. Was Audi ist? Ich glaube, dass war damals eine Automarke.´“

Zur allgemeinen Erleichterung passiert nichts und selbst als das Paar den Abzweig zum Campingareal verpasst, rastet keine/r aus, sondern man hat sich im Griff, wendet und erreicht die Rezeption. 

 

Der launige Camper nennt seinen Namen, reicht dem Platzwart seinen Personalausweis. 

„Nicht lesbar“, versucht dieser etwas auf dem Dokument zu entziffern. Was will er? Steht dort, wie er sein Leben leben soll? Wird dort das Rätsel seines Daseins gelöst? Ist er deshalb so verzweifelt?

„Wie wär´s mit einer Brille?“. 

„Schauen Sie her, wie klein das ist!“, streckt er dem Paar den Ausweis entgegen. 

„Ja, fragen sie uns halt. Sprechen Sie mit uns! Die Menschen sollten viel mehr miteinander reden! Gerade in diesen Zeiten!“

Die Augenlider des Rezeptionisten klimpern. Er atmet heftig durch. 

„Macht 19 Euro.“

„Soll ich gleich bezahlen?“ 

„Bei Abreise“, erklärt er und reicht dem launigen Camper die Rechnung, die – auch kaum lesbar – auf Umweltpapier gedruckt ist: Erst der unentzifferbare Ausweis, dann die unleserliche Rechnung. Wir erkennen die Zeichen der Zeit nicht mehr! Nicht mehr auf unseren Ausweisen. Nicht mehr auf unseren Rechnungen. Nicht mehr an unseren Wänden!

„Wie wär es mit einem neuen Drucker?“, sagt niemand. 

 

Dann machen sich der Rezeptionist, die Frau und der launige Camper auf den Weg. Links am Wasser haben sich die Dauercamper mit Buchsbaumhecken und HSV-Fahne einsortiert. Rechts liegen die Areale für die touristischen Gäste. Die Ruhelosen. Die dem Sinn ihres Lebens hinterherjagen, während die Dauercamper feixen: „Wir wissen, worum sich alles dreht. Komm ins Land der Dauercamper. Da findest du Frieden, musst dich nicht jeden Abend in Bier ertränken!“

Das Gelände zieht sich hinunter zu einem Bach, in den im Herbst das Wasser aus dem Dreifelder Weiher abgelassen wird, um aus diesem dann bequem die zappelnden Karpfen entnehmen zu können. 

„Ein Teil landet auf dem Teller. Ein Teil wird in anderen Gewässern ausgesetzt“, erklärt der Rezeptionist. Welche Macht entscheidet hier das Karpfenschicksal? Du darfst leben! Du wirst überbacken! 

 

Vor dem Sanitärbereich haben sich schwarze BMW-Kombi zu einer Wagenburg gruppiert. Männer grillen schweigend. Frauen rauchen E-Zigaretten. Techno wummert leise. Der launige Camper ist gerührt: Wie so Siedler im Wilden Westen! 

„Ob die hier die Nachtruhe durchsetzen?“, flüstert seine Frau. 

„Wenn nicht, ziehen wir ihnen die Heringe raus!“ 

Schließlich passieren die drei eine Buchenhecke, als der Rezeptionist plötzlich stoppt und mit seinem Turnschuh im Gras herumstochert. Aus dem Augenwinkel nimmt der launige Camper etwas Langes und Lebloses wahr. 

„Diese Städter müssen alles kaputt machen!“ 

„Die Leute kennen das nicht“, gibt sich die Frau verständnisvoll. „Die haben Angst vor Schlangen!“

„Muss man die dann gleich tothauen?!“ 

„Ist das eine Ringelnatter?“, wirft der launige Camper ein. Er will weg von dem Kadaver. Lieber über biologische Kategorien diskutieren. Rational rangehen, um dann loszulassen. 

„Sind das nicht eigentlich Eidechsen?“, legt er nach. 

„Ich wurde mal von einer gebissen“, erklärt jetzt der Rezeptionist und wendet sich zum Gehen. „Der Biss war okay. Nicht giftig. Aber die Wunde heilte ein dreiviertel Jahr nicht.“

„Es gibt ja Schlangen, die sind sich selbst genug. Die verspeisen sich selbst. Das Schlangenmaul schnappt sich den Schlangenschwanz und: Legga!“  

„Widerlich!“, wirft die Frau ein.

„Die Natur ist grausam. Das wollen die Städter nicht wahrhaben.“

„Die Schlange, die sich selbst frisst, ist übrigens in der Eso-Szene ein beliebtes Symbol. Es erinnert auch irgendwie an Buddha. Man ist sich selbst genug, weil man sich ja selbst aufessen kann. Man braucht keine Nahrung zu suchen. Man hat ja das eigene Fleisch. Die stressige Welt. Ist uns Wurst!“

„Meine Nichte hat sich das als Tattoo stechen lassen!“, ergänzt der Rezeptionist.

 

Endlich hat man die Zeltwiese erreicht. Sie bietet freie Aussicht auf die Höhenzüge des Westerwalds und auf eine Armada von zwölf Windrädern, die sich langsam in der Abendbrise drehen. An den Turbinen prangen Lampen, die im Sekundentakt rot aufflammen. Wie glühende Holzkohlenaugenpaare. 

„Erhaben! Gänsehaut!“, entfährt es der Frau des launigen Campers.

„Gänsehautgötzen unserer Tage!“, schreit der launige Camper, sinkt auf die Knie, die Arme ausgebreitet, den Windräder entgegengereckt. 

„Oh, Heilsbringer! Oh, Götter, der neuen Zeit!“

Die Frau verdreht die Augen. Immer diese Mystik und Metaphysik im unpassendsten Moment! Der Rezeptionist scheint in sich hineinzuhorchen, um eine adäquate Reaktion zu finden: Soll er einen Veitstanz um den launigen Camper aufführen? Denn so hat er die Windräder noch nie wahrgenommen. Doch er unterdrückt aufkommende religiöse Wallungen, brummt nur: „Strom für diese Städter, die unsere Schlangen totschlagen!“

 

Die Zelterrichtung entpuppt sich dann als herausfordernd. Auch legt die Frau die Latte hoch, indem sie verkündet: „Nele hat gesagt, dass sie nur Paare kennt, die sich beim Aufbau zerstreiten!“

„Na, toll“, denkt der launige Camper, „das erklärt den Tipp der Therapeutin. Sie profitiert von unserem Gezelte! Wenn wir uns zerstreiten, buchen wir zusätzliche Stunden. Perfide!“

Beim launigen Camper löst dies den „Wir-werden-es-euch-schon-zeigen!“-Reflex aus und er brüllt: „Wir werden uns nicht verkrachen! Das wird das Zelt des himmlischen Friedens! Nieder mit dem Pärchenschema!“ 

Leider haben sie den kleinen Hunger zwischendurch vergessen. Denn als sie zum dritten Mal die vier Zeltstangen falsch eingefädelt haben, rastet das unterzuckerte Camperpaar aus, wirft sich auf das Zelt, schlägt auf die Polyesterbahnen ein, beist, kratzt, spuckt und schreit: „Hätten wir uns ein Wurfzelt besorgt! Hätten wir! Hätten wir!“

Irgendwann wischt sich die Frau den Wutschaum ab, rollt sich vom Zelt. Irgendetwas hat ihr eingeflüstert: „Es gibt vier Stangensorten mit drei verschiedenen Längen!“

Nach zwei Stunden steht es dann, das Zelt. 

„Echte Beziehungsarbeit!“ 

„Ich mache die Whatse für die Therapeutin!“

„Schreib: Wir haben uns nicht gestritten!“

„Mit Zunge-Raus-Emoji!“ 

 

Und im Hintergrund drehen sich die zwölf Windräder und flüstern miteinander wie Götter aus uralten Zeiten.

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