Von Agnes Decker

An den Außenwänden der Buden hingen farbige Taschen, Pullover aus Alpakawolle, Panflöten und bunte Schals. Die Tische quollen über vor Räucherwerk, Kräutern, Zuckerstücken, Figürchen, Elixieren und Kokablättern. Von den blauen Dächern baumelten winzige Lamas, an groben Schnüren aufgeknüpft.

„Es sind Lamaföten. Sie sollen vor Unglück bewahren.“ Die junge Frau trug die bunten Gewänder der Einheimischen über einer weiten schwarzen Hose. Unter dem unförmigen Hut schauten blonde Locken hervor. „Hi, ich bin Marleen. Ich habe dich im Hostel gesehen. Woher kommst du?“
„Aus Bonn, ich bin Lisa. Jonas und ich sind seit einer Woche hier.“
„Jonas?“
„Mein Freund“, sagte Lisa. „Er hält sich fast nur im Hostel auf. Kopfschmerzen, Übelkeit. Schlimm.“
„Die Einheimischen kauen Kokablätter gegen die Höhenkrankheit.“
„Ihm wird übel davon.“ Lisa schüttelte den Kopf.  „Du scheinst dich ja gut auszukennen. Bist du schon länger hier?“
„In La Paz? Seit etwa zwei Monaten. Davor war ich in Brasilien: Rio, Salvador de Bahia, Amazonas und so. Interessierst du dich für Magie?“ Marleen stand so dicht neben ihr, dass Lisa ihren Atem spürte. „Hier, in der Straße der Hexen, gibt es fast nur noch Zauber für Touris.“
Marleen griff nach Lisas Arm. „Komm mit, ich zeige dir was.“ Sie zog Lisa zu einer der Buden, die sich eng aneinandergedrängt den Hang hinaufschlängelten.
„Hier.“ Auf dem Tisch lagen unzählige Holzfiguren in vielen Farben und Größen. „Die Pachamama ist die indigene Mutter Erde und steht für Fruchtbarkeit. Jeder ihrer Köpfe hat eine Bedeutung – die erste Menstruation, das Mutterglück und das Alter.“
Lisa trat nah an den Tisch. Die magischen Figuren hatten etwas Ursprüngliches, Einfaches, das sie tief berührte.
„Das sind die guten. Wenn du dich für richtige Magie interessierst, musst du zu den Schamanen. Nach El Alto. Ich kann dich dorthin bringen.“
„Ich überlege es mir. Wir sehen uns.“

In den nächsten Tagen waren Marleen und sie ständig zusammen, streiften durch die Marktstraßen oder saßen irgendwo, redeten und schauten hinunter auf die bunte, lebendige Stadt mit ihren engen Gassen, den Hochhäusern und der Seilbahn, die den unteren Teil mit dem 4000 Meter hoch gelegenen El Alto verband. Altes und Neues schien in perfekter Harmonie.

Jonas ging es immer noch schlecht. Er klagte über Kopfschmerzen und Schwindel, lag ständig im Bett, schlief oder schrieb in sein Notizbuch. Wenn sie ihn ansprach, sagte er, sie solle ihn in Ruhe lassen. Lisa fühlte sich hilflos. Zudem hatten sie einen Event gebucht, den sie auf keinen Fall versäumen wollte: Mit dem Nachtbus sollte es nach Uyuni gehen, in die Salzwüste – ein Must-Go für jeden Touristen. Zum Glück ließ sich Jonas überreden, mitzukommen. Wenn auch nur, weil die dreitägige Tour sehr teuer war.
„Vielleicht tut es dir gut, mal rauszukommen“, sagte Lisa, während sie ihren Rucksack packte. „Übrigens, Marleen kommt auch mit.“
„Marleen?“ Jonas klang verärgert. „Ich mag sie nicht, und sie redet zu viel.“
„Aber sie spricht Spanisch, und ich finde sie eigentlich ganz nett. Wenn nicht, setzen wir uns einfach ab und machen unser Ding. Ok?“

Kurz vor 20 Uhr bestiegen die drei den modernen Bus, der nach acht Stunden Fahrt über holprige Straßen in Uyuni ankam. Das Zentrum bestand aus einer breiten, staubigen Straße mit ein paar Läden, Cafés und Hotels und einem historischen Glockenturm, der mit seinem lichten Gelb und den weißen Stuckverzierungen der einzige Lichtblick in dieser Geisterstadt war.
„Wir haben noch Zeit.“ Jonas gähnte und schulterte seinen Rucksack. Lisa und Marleen folgten ihm zu einem kleinen Café. Es war gut besetzt mit Touristen aus aller Welt, die das gleiche Ziel hatten: den Salar de Uyuni, die riesige Salzwüste. Nach einem guten Frühstück brachen sie gemeinsam mit den anderen auf.

An der Sammelstelle stand ein schmutziger und in die Jahre gekommener Jeep mit geöffneten Türen.
Ein Mann, der auf dem Boden saß und Koka kaute, sprang auf und machte eine einladende Handbewegung. Dann nahm er wortlos ihr Gepäck und verstaute es auf dem Dach.Sie erreichten den Salar bei Sonnenaufgang. Ein Meer aus Weiß, so endlos, dass Himmel und Erde eins zu werden schienen. Am Horizont flimmerten ein paar Berge. Ein surrealer Ort. Staunend schauten sie aus dem Fenster, während der Jeep über die Piste rüttelte. Das Rütteln wurde stärker, und plötzlich, mit einem Ruck, blieb der Jeep stehen. Ein metallisches Zischen, dann Stille. Der Fahrer warf ein paar spanische Sätze in den Raum und verschwand unter dem Wagen.
„Er hat gesagt, dass erst morgen jemand kommen kann, das Auto zu reparieren“, übersetzte Marleen. „Und es gibt keinen Handyempfang. Nirgendwo hier.“
„Scheiße, was machen wir jetzt?“ Jonas schaute von seinem Notizbuch auf.
„Warten.“ Marleen war ausgestiegen und setzte Kapuze und Sonnenbrille auf. „Hier knallt die Sonne doppelt, der Himmel verschmilzt mit dem Boden, und das Hirn spielt verrückt“, sagte der Fahrer. „Und so heiß es am Tag ist – sobald die Sonne untergeht, wird es eiskalt, bis zu zehn Grad minus.
Und bis zur nächsten Unterkunft ist es weit. Tröstlich, was?“ Marleen verzog das Gesicht. „Er meint, wenn wir wollten, könnten wir ein Stück zu Fuß
in den Salar laufen und Fotos machen“, dolmetschte sie.
„Ich bleibe hier.“ Jonas war blass. Er rieb sich über die Stirn und starrte auf die in der Sonne gleißende Fläche.
Lisa nickte ihm zu. „Mach das. Ruh dich aus. Ich gehe mit Marleen.“

Erst am späten Nachmittag kehrten sie zurück. Sie hatten den Tag genutzt für lustige und kreative Perspektivspiele, die nur hier in der unendlichen Weite möglich waren. Menschen konnten winzig klein erscheinen oder Objekte riesig wirken, je nach dem Winkel der Aufnahme. Sie hatten unzählige Fotos gemacht. Jetzt waren sie müde, sonnenverbrannt und hungrig. Vom Fahrer war weit und breit nichts zu sehen. Auf dem Lenkrad klebte ein schmuddeliger Zettel: „Ich komme morgen mit Werkzeug. Verlasst den Jeep nicht“, übersetzte Marleen.
Jonas lag auf der Rückbank und schlief. Vorsichtig nahm Lisa seine Hand. „Wie geht es dir?“
„Einer der anderen Jeeps kam zurück. Sie sagten, ich sollte mitfahren, aber ich wollte auf euch warten. Es ist so einsam hier, und alles ist so unendlich.“
Seine Stimme zitterte.
„Ja. Was für eine gewaltige Natur. Man fühlt sich winzig. Unglaublich.“ Lisa strich ihm über den Arm. Jonas zuckte zusammen.
„Lasst uns erstmal was essen“, sagte Marleen, die mit einer Kühltasche in der Hand aus dem Jeep kletterte.
Es gab gefüllte Teigtaschen, Wasser und Bier. Während sie aßen und tranken, sank die Sonne. Die Kälte der Nacht kündigte sich bereits an. Sie wickelten sich in Decken und setzten sich auf den Boden.
Es war still. Dann kippte das Licht ins Kupferne, und der Wind bekam eine Stimme. Erst war es nur ein Wispern, doch dann, ganz deutlich, ein Glockenschlag. Dumpf, hohl, metallisch.
„Habt ihr das gehört?“ fragte Jonas leise.
Lisa nickte. Marleen presste die Lippen zusammen. Sie saßen da und schwiegen, tranken, bis die Nacht sie einholte. Sterne flammten auf, kalt und endlos.

Ein Geräusch ließ Lisa aufschrecken. Sie musste eingeschlafen sein. Ein wirrer Traum hielt sie noch gefangen. Marleen war vor ihr. Sie gingen auf einem staubigen Weg an armseligen Hütten vorbei, die unmittelbar an einem Abgrund standen. Der Steilhang fiel senkrecht ab in eine unendliche Tiefe ohne irgendeine Begrenzung. Lisa war übel, sie schwitzte, ihre Beine zitterten und sie hatte eine tiefe Angst. „Hola“, flüsterte ein Mann mit einem bunten Umhang und reichte ihr einen Becher. Sie trank, die Angst verschwand und sie fühlte sich leicht und klar. Überall standen Figuren mit weit aufgerissenen Mündern. Dazwischen tanzte Marleen, in einem bunten Nebel schwebend, in dunkle Tücher gehüllt, die Augen geschlossen – wie in Trance. Sie hielt etwas in der Hand und murmelte vor sich hin. „Jonas“, verstand Lisa und etwas in Spanisch.

Ein weiterer Glockenschlag holte Lisa in die Realität zurück. Er war so nah, dass der Boden vibrierte. Marleen schrie auf und umklammerte ihren Rucksack. Etwas Hartes polterte heraus, rollte in die Mitte, drehte sich und blieb liegen. Es war ein schwarzer Stein, roh geschnitzt zu einem Gesicht ohne Augen.
Lisa sprang auf und starrte auf die Figur. „Was ist das, Marleen? Was …?“
„Es ist nur ein Souvenir für Touristen“, fauchte Marleen.
Jonas griff nach dem Stein. „Nicht anfassen“, schrie Lisa, aber es war schon zu spät.
Jonas drückte die Figur an sich – wie eine Geliebte. „Es will, dass wir weitergehen“, sagte er tonlos. Seine Augen waren weit, als sähe er etwas, das nur er sehen konnte. „Die Glocke ruft.“
„Hör auf“, Lisa schluchzte und hing sich an seinen Arm. „Bitte, das ist nicht witzig.“ Er fühlte sich kalt an und hart.
„Es ist nur ein Souvenir, beruhige dich doch.“ Marleen legte den Arm um Lisa. Sie roch nach Schweiß, Sonnencreme und etwas Würzigem.
„Warum?“ Lisa stieß sie von sich. „Warum hast du das mitgenommen?“
„Es ist wirklich nur ein Souvenir. Wir sind alle überanstrengt und sollten etwas schlafen.“ Marleen drehte sich um und stieg in den Jeep.
Jonas stand wie erstarrt und drückte die Figur an seine Brust. Als Lisa sich ihm näherte, sagte er mit rauer, tiefer Stimme: „Lass mich. Geh weg. Zu ihr.“ Dabei schaute er sie an. Mit einem fremden Blick. 

Zögernd stieg Lisa in den Jeep. Draußen verschmolz Jonas’ Gestalt mit dem Dunkel der Nacht. Am Himmel, der sich über die weiße Weite spannte, standen Millionen von Sternen. Lisa streckte sich aus und wartete. Irgendwann hörte sie, wie die Tür des Jeeps geöffnet und geschlossen wurde. Dann schlief sie ein.

Am nächsten Morgen lag Jonas’ Notizbuch auf der Motorhaube, die Seiten vom Tau aufgeweicht, die Schrift verlaufen. Jonas war verschwunden. Keine Spuren, keine Erklärung. Mit ihm auch die Figur, obwohl Marleen schwor, sie wieder in den Rucksack gepackt zu haben.
„Es hat genommen, was es wollte.“ Marleen schlang die Arme um ihren Körper. „Oder es hat gerade erst angefangen.“

Version 3

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