Von Wolfgang Mebs
Die Nacht hat ihn gerädert, aber das ist ja nichts Neues. Heute ist die Jahresversammlung der Bezirksleiter. Sein Zug fährt um 8.25 Uhr, die Konferenz wird um 14 Uhr beginnen. Er wird versuchen, auf der Fahrt ein wenig Schlaf nachzuholen, weiß aber, dass ihm das genauso wenig gelingen wird, wie in den Stunden zuvor.
Bis kurz vor Mitternacht hatte er an seinem Vortrag gearbeitet, sich mit Cognac in den Schlaf zu trinken versucht, war um zwei wieder aufgestanden und hatte sein Konzept überarbeitet. Um vier war er wie ein Sack fauliger Kartoffeln ins Bett gefallen. Als ihn die beiden Wecker aus dem unruhigen Schlaf reißen, hat er zum ersten Mal kurz daran gedacht, einfach liegen zu bleiben.
Die ganze Fahrt über wird die Nervosität wie ein Stein in seinem Magen liegen, wird anwachsen zu einem Brocken aus Granit, und wenn die Konferenz beginnt, ihn wie ein bleierner Monolith in die Tiefe ziehen. Er wird, bevor er seinen Vortrag beginnt, die Atemübungen machen, die er mit seinem Therapeuten trainiert hat, die ihn bisher vor der Blamage, vor dem Untergang, dem Ertrinken bewahrt haben.
Am schlimmsten ist es, wenn er als Letzter seinen Bericht vorlegt. Mit jeder Minute wächst sein Unbehagen, die Furcht fährt ihm in jede Nervenzelle, immer schärfer treten seine Defizite hervor mit jedem Vortrag der anderen Betriebsleiter, die so selbstbewusst auftreten, mit sonorer Stimme und einer Körpersprache, die jedem signalisiert, auf welch festem Boden sie stehen. Was bei ihnen so natürlich, so zutiefst überzeugend wirkt, hat er, ein mediokrer Schauspieler mit dünner, hoher Stimme, sich lediglich andressiert. Nie wird er einer der ihren sein.
Sosehr er versucht hat, sich einzureden, es gäbe dennoch keinen Grund für diese ätzende Unsicherheit, so lauert sie doch ständig unter der Oberfläche, unsichtbar für die anderen, für seine Freunde, die Kollegen – nein, nicht Kollegen: Konkurrenten – und jahrelang auch für seine mittlerweile auseinandergefallene Familie. Schließlich ist er all die Jahre durchaus erfolgreich gewesen; seine Verkaufszahlen und seine operative Performance sind, obschon nicht die besten, so doch mehr als ansehnlich. Die CEOs sind zufrieden. Was will er mehr?
David Blohm, seit 15 Jahren Bezirksleiter eines Elektrokonzerns. Studium, Auslandserfahrung, kontinuierlich die Karriereleiter hinauf, ausgestattet mit allen materiellen Attributen des Erfolgs. Und doch hat ihn nie das Gefühl verlassen, im falschen Anzug zu stecken.
»Am besten bin ich darin, genau das zu verbergen«, denkt er, als ihn das Taxi zum Bahnhof bringt. Nicht zum ersten Mal fragt er sich, wie das weitergehen soll, wie lange er den Schein noch aufrechterhalten kann. Aber er hat weitergemacht. Er hat es geschafft, zu etwas gebracht, heißt es. Dabei hat er einfach nur durchgehalten all die Jahre.
Ob auf beruflichen Veranstaltungen oder privaten Feiern – stets ist er der gutaussehende, arrivierte Manager, bewundert und beneidet. Wenn er genug getrunken hat, glaubt er es manchmal selbst, kurzfristig. Dann sieht er seinem Gegenüber genauer ins Gesicht, blickt durch dessen Augen auf sich zurück und wundert sich, dass niemand es erkennt, sein wackeliges Gerüst aus Selbstdisziplin und Autosuggestion, aus Selbstverleugnung und Verdrängung. Gedanken an ein anderes Leben, so sehr sie sich ihm bisweilen aufdrängen, lässt er nicht zu. Er hat eine vierköpfige Familie und Hypotheken. Er muss funktionieren.
David holt sich noch einen Coffee-to-go und betritt den Bahnsteig. Laut Anzeigetafel hat der ICE 15 Minuten Verspätung. Kein Problem. Er nimmt immer einen Zug früher als notwendig.
Er setzt sich auf eine Bank und sieht sich um. Ein paar Meter links von ihm steht eine Frau, sie mag Mitte dreißig sein. Lange kann er den Blick nicht lösen. Sie hält, anders als die meisten, kein Handy in der Hand. Sie steht einfach nur da, aufrecht, den Kopf gehoben, mit einem stolzen Blick, der von innen kommt. David beneidet sie.
Etwas flattert rechts von ihm auf. Eine Taube fliegt vorbei, hinauf in das Dachgestänge auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, ruckelt sich auf einem Eisenträger zurecht. Sie sieht ihn an. David sieht weg.
Eine Gruppe Jugendlicher mit Rucksäcken läuft lachend an ihm vorbei, voller euphorischer Vorfreude auf die anstehende Reise; vielleicht die erste, die sie ohne ihre Eltern machen. So wie er selbst, vor 30 Jahren, mit Sven und Rainer, mit dem Interrail-Ticket Richtung Süden.
Die Taube sitzt immer noch da. Irgendwie mag er sie nicht, obwohl es doch schöne Vögel sind. Tauben sind die paradoxesten Tiere des Planeten, denkt er. Friedenssymbol und Großstadtplage gleichermaßen. Naive Hoffnung, gepaart mit alles verätzendem Kot.
Er wendet den Blick, sieht hinab auf die Gleise, wieder hinauf. Die schwarze Pupille in der rotleuchtenden Iris ist immer noch starr auf ihn gerichtet.
Mögen manche Menschen auch behaupten, sie würden ihr Leben exakt so noch einmal leben, für David gilt das nicht. Schon lange bereut er diesen einen Moment, in dem er die Weichen falsch stellte, nach dem Studium, als er nicht sofort eine Anstellung fand. Um die Zeit zu überbrücken, arbeitete er vier Monate in der Werkstatt eines Nachbarn, eines Schreiners und Möbelbauers, den er in seiner Stammkneipe kennengelernt und ihm begeistert von seinen jugendlichen Laubsägearbeiten im Hobbykeller seines Vaters erzählt hatte. Zugeprostet hatten sie sich und gelacht über seine Naivität.
Doch jetzt gehören diese Wochen zu Davids schönsten Erinnerungen. Er liebt den Geruch von Holz und Leim und Politur, die fliegenden Sägespäne, die Berührung des gehobelten und polierten Holzes. Die Metamorphose eines Möbelstücks. Er muss nur die Augen schließen und alle Sinneseindrücke sind so präsent, als stünde er in der Werkstatt und betrachte mit Holger die gemeinsam gefertigte Kommode. Auch wenn er nur wenige Handgriffe dazu beigetragen hatte, betrachtet er sie noch heute auch als sein Werk. Wenn er ehrlich ist, erfüllt ihn die Erinnerung mit größerem Stolz, als all seine betriebswirtschaftlichen Erfolge. Damals aber, geblendet von seinem ersten Arbeitsvertrag und den Karriereaussichten, war er auf den falschen Zug gesprungen.
Zwei Männer stellen sich neben seine Bank. Zwischen Bissen in ihre belegten Brötchen unterhalten sie sich über das erlebnisreiche Wochenende. Sie sprechen lauter, als ihm lieb ist, über einen angesagten Club, über einen DJ, über Frauen. Er selbst hatte über Zahlenkolonnen gebrütet.
David steht auf und schleudert seinen Kaffeebecher in einen Mülleimer.
Er sieht zu dem Eisenträger hinüber. Eigentlich ist das unmöglich, aber die Taube sieht ihn spöttisch an.
Der Lautsprecher kündigt den mittlerweile 25 Minuten verspäteten ICE an. David nimmt seinen Aktenkoffer und atmet tief ein und langsam, ganz langsam aus. Er blickt sich noch einmal um. Ein Gefühl der Unwirklichkeit beschleicht ihn, als wäre er gar nicht hier, sondern betrachte das Szenarium wie in einem Film, einem Traum. Der Bahnhof, die Menschen, die Ankündigung des Zuges – nichts als eine Fata Morgana.
Er stellt den Aktenkoffer wieder ab.
Der Zug fährt ein. Vor seinen Augen fliegen Waggons vorbei, dann Fenster, dann Gesichter. Bewegung kommt in die Menge. Die Ansage ist nichts als bedeutungsloses Rauschen. Als der Zug weiterfährt, sieht David zu der Taube hinauf. Sie ist verschwunden.
Ohne den Aktenkoffer verlässt David den Bahnhof.