Von Volkmar Klundt
Monika hatte sich von ihm getrennt und wieder ihren Mädchennamen angenommen. Sie war zu ihren Eltern gezogen, hatte den Namen Platzhalter abgelegt wie eine alte Jacke und den Namen Müller wieder übergestreift, als wären die zwölf Jahre davor nicht passiert.
Sie war mit den Kindern in das Flugtaxi gestiegen, das bereits mit kreisenden Rotoren wartete.
Lotte drehte sich um und winkte mit ihrer kleinen Hand herüber, obwohl Monika den Kindern eingeschärft hatte, das nicht zu tun. Dass sie ein Spiel spielten und niemand wissen durfte, dass sie ihren Papa noch doll lieb hatte. Benni war schon groß und außerdem stinksauer. Als Herbert sich verabschieden wollte, war er wütend an seiner Hand vorbei gelaufen und in die Maschine geklettert.
Mit rauschenden Rotoren hob das Taxi ab und schrumpfte zu einem Punkt, der zwischen den Häuserschluchten verschwand.
Nicht in seinen schlimmsten Träumen hätte Herbert Platzhalter sich vorstellen können, dass ihn die Veröffentlichung seiner Sozialstudie in Schwierigkeiten bringen, ins Off katapultieren würde. Die Daten waren valide. Seine Zahlen logen nicht. Und doch, formal hatte er gegen das akademische Schweigegelübde verstoßen. Kleinert hatte ihm gestern die Vorladung des Komitees selbst ins Büro gebracht.
„Ich habe alles getan“, seine Stimme troff vor Mitleid, schwer wie eine blauschwarze Gewitterwolke, aus der die ersten dicken Tropfen fielen, „aber auch mir als Dekan sind Grenzen gesetzt.“
Durch das lichte Blätterdach des Birkenwäldchens fällt genügend Mondlicht, so dass sie auf dem sandigen Waldweg zügig vorankommen. Der beißende Gestank ist nun so intensiv, dass Platzhalter versucht, flach zu atmen. Metallisches Dröhnen, so als klappten schwere Türen, klingt rhythmisch durch die Bäume und plötzlich begreift er, dass sie sich nahe der Aufzuchtstation „Food from Waste“ befinden.
Als sie den Waldrand erreichen, trennen sie nur wenige Meter von der Anlage. Geduckt liegen die Gebäude vor ihnen. Dahinter zieht sich der Zug, unter dem gleißenden Licht der Scheinwerfer metallisch schimmernd, wie ein gewaltiger Gliederwurm, hunderte Meter das Gleis entlang. Laderoboter wieseln mit summenden Elektromotoren über die Rampe. Aus den Waggons ziehen Rauchschwaden. Ein Bild, das ihn überrumpelt wie ein Überfall, so dass er erst einen Moment später begreift, dass es sich dabei um den Atem der Insassen handelt, der durch die Gitterstäbe der vielen kleinen Boxen dringt und in der kühlen Nachtluft kondensiert.
Begleitet vom Lärm zufallender Verschlüsse, dem quietschenden Ruckeln des anfahrenden und stoppenden Zuges, dem Quieken der Tiere, rückt Waggon um Waggon vor.
Lader führen stapelweise Behälter heran, stoppen neben den Transportboxen. Die Türen der Habitate öffnen sich und ein automatischer Schieber befördert die Tiere in ihr neues Domizil. Ist der Besatz komplett, ruckt der Zug einen Waggon vor.
„Nachts ist hier nur der Notdienst.“ Der Anführer der Schleuser hält ihm die Hand hin:
„Ich bin Pete.“ Er deutet auf die Anderen: „Sam und Bill.“
„Ja klar…“, denkt Platzhalter, „ganz bestimmt.“ Petes Händedruck ist ein Statement.
Sam bringt ein Päckchen zum Vorschein.
„Moment noch“, sagt Pete, „wir müssen noch etwas warten aber besser, du ziehst dich schon mal aus und schlüpfst in was Bequemes.“ Er grinst und hält Herbert eine Art silbernen Strampelanzug hin.
Platzhalter streift Schuhe, Hose und Pullover ab und schlüpft in den metallisch glänzenden Anzug, der ihn umschließt wie eine zweite Haut.
„Warten worauf?“
„Darauf.“
Plötzlich dringen schrille Schreie aus der Anlage und zerschneiden die Nacht. Alle Lader stehen, eingefroren in seltsamen Verrenkungen, rotblinkend auf der Rampe. Zwei Arbeiter traben, nicht eben schnell, den Zug entlang. Eine der Verriegelungsklappen hat sich nur zu zwei Dritteln geschlossen. Zappelnd hängt das Hinterteil des Schweins vor dem Waggon, während das Vorderteil von drinnen verzweifelte Laute ausstößt.
Die Wärter öffnen die Verriegelungsklappe, ziehen das noch zuckende, halb zerteilte Tier hervor, wobei Blut und Innereien auf den Schotter fallen. Dann beendet ein Schuss das Geschrei.
„Jetzt müssen sie die Anlage resetten“, erklärt Pete, „das dauert einen Moment.“
Er zieht eine Rolle Panzerband aus seinem Rucksack und klebt Platzhalter ein flaches, etwa 10 Zentimeter großes Päckchen auf die Brust.
„Wenn du den gelben Knopf drückst, simulierst du die Kreislaufparameter eines Schweins zusammen mit seiner Chipnummer. Der rote Knopf öffnet das Habitat.“
Er grinst dünn.
„Das solltest du dir besser für den Schluss aufsparen.“
Er schiebt Platzhalter auf die Rampe.
„Also los.“
„Ich muss pinkeln“, sagt Herbert. „Zu spät“, entgegnet Pete darüber hinweg, „du verpasst noch deinen Zug. Los, los!“ Sie laufen hinüber zu den Domizilboxen. Die beiden Arbeiter sehen betont in eine andere Richtung.
Eine der Metalltüren pendelt leise klappernd hin und her.
„Rasch“, Pete hält die Tür und Platzhalter kriecht hinein. Gitterstäbe reißen die Außenwelt in vertikale Streifen. Als er sich aufrichten will, knallt sein Kopf gegen die Decke. Pete schlägt die Klappe zu.
„Du musst jetzt den Impulsgeber aktivieren.“
Platzhalter drückt den gelben Knopf. „Viel Glück“, Pete dreht sich um.
„Wohin fährt der Zug denn überhaupt?“, ruft ihm Platzhalter hinterher.
Bevor Pete antworten kann, packt der Lader mit einem Ruck Herberts Behältnis, wirbelt es durch die Luft und stoppt so abrupt vor dem Waggon, dass er in seiner Box umhergeworfen wird wie ein Spielzeug. Ein Schnappgeräusch und eine halbe Sekunde später öffnet sich quietschend die Tür, die Rückwand fährt auf Schienen vor und schiebt Platzhalter unaufhaltsam in den Zug.
Wie Gongs schlagen die Verschlüsse, lassen den Boden rhythmisch vibrieren. Schlösser und Riegel schnappen, die Kupplungen der Wagen quietschen und klirren. Gelochte Bodenprofile ermöglichen den Ablauf von Körperflüssigkeiten, umlaufende Bleche bilden die Wände, eingelassene Gitter ermöglichen ausreichende Versorgung mit Luft. An der Decke findet Platzhalter einen Gummihebel. Als er dagegen drückt, läuft Wasser in einen Napf.
Platzhalter dreht sich auf die Seite, rollt sich gekrümmt zusammen, fällt wenige Minuten später unruhig zuckend in einen erschöpften Schlaf, aus dem er erst erwacht, als der Zug längst fährt, das Liegen auf dem harten Boden zur Qual wird und er feststellt, dass er sich in seinen Anzug entleert hat.
Von nebenan dringen Schnüffelgeräusche, ein Augenpaar betrachtet ihn neugierig und aus einer Naht an seinem Beinling tropft Urin. Der Zug rauscht stetig rumpelnd, vorbei an Bahnstationen, die plötzlich aus der Dunkelheit auftauchen und ebenso rasch wieder verschwinden, durch die tintenschwarze Nacht in die Freiheit. Vielleicht könnte er die Familie nachholen. Er müsste nur für Monika und die Kinder eine gefahrlose Route finden.
Der Nebel des aufkommenden Tages entzieht den Farben die Kraft und setzt sich in winzigen Perlen auf die dunkelblaue Uniform. Lehner beobachtet den einlaufenden Zug. Ab und an schaut er auf sein Terminal, schiebt die Dateien hin und her.
Anzahl der Wagen, Zahl der Schweine, Bestimmungsort, Verbringung, Versorgung, all das ist Routine und wird ja schon jahrelang elektronisch angefordert, durch KI bereitgestellt und geplant. Für ihn wird nächstes Jahr Schluss sein.
An guten Tagen, solche, die ihn froh stimmen, an denen er kleine, unterhalb der elektronischen Schwelle lauernde Unregelmäßigkeiten entdeckt, kommt er nach Hause, macht ein Bier auf und sagt „Heute war schön“.
Eben hält der Zug mit quietschenden Bremsen, als, genau gegenüber, im hinteren Drittel, eine Gitterklappe, vorschriftswidrig offen, metallisch klappert.
Lehnert kratzt sich am Kopf und will gerade hinübergehen, als die Klappe von innen aufgedrückt wird.
Ein Schuh fällt heraus. Einen Augenblick später folgt ein zweiter und jemand oder etwas drückt von innen die Klappe ganz nach oben.
„He“, sagt Lehner etwas lahm, als eine Gestalt, in eine Art Folie gehüllt, umständlich und stöhnend aus dem Waggon klettert, sich auf den Bahndamm herablässt und dort, als handelt es sich um eine Marionette, der man die Fäden zerschnitten hat, zusammenfällt.
Kurz darauf streift sich die Gestalt die Schuhe über, zieht sich am Waggon hoch auf die Füße und humpelt auf Lehner zu.
Der Mann ist hager und dünn, Bürohengst oder so.
Auch wenn Lehner kurz vor der Rente steht, den könnte er leicht umpusten, jedenfalls, und hier ist er sich sicher, der ist nicht gefährlich.
„Asyl, ich bitte um Asyl“, sagt die Gestalt nun, da er nur wenige Meter von Lehner entfernt ist.
„Asyl“, denkt Lehner, „was für ein seltsames Wort.“
Dann drückt er die Notfalltaste.
Nachdem er den halben Tag in der Arrestzelle gewartet hat, legt man Platzhalter Handschellen an, die man sorgsam an einer Bauchkette befestigt. Dann schlurft er, gesichert durch Beamte, einen Korridor entlang. Sie betreten einen Raum, der außer einem Stuhl und einem großen Bildschirm leer ist. Die Beamten drücken ihn auf den Stuhl herunter und nehmen rechts und links Aufstellung.
Plötzlich erhellt sich der Bildschirm und zeigt das fünfköpfige Universitätsgremium, aus dessen Mitte Kleinert im Ornat des Dekans auf ihn herunter blickt.
„Herbert Platzhalter“, für seine tragende Stimme, die auch ohne Mikrophon in den hintersten Winkel des Hörsaals zu dringen vermag, hat ihn Platzhalter immer bewundert, „dem Auslieferungsgesuchen unseres Komitees wurde natürlich stattgegeben.“
Kleinert lächelt sardonisch:
„Ach, wenn du doch geschwiegen hättest…“
„…wärst du ein Philosoph geblieben“,
ergänzt Platzhalter.
V2/ 9506