Björn D. Neumann

»So, Dirk, geschafft. Das Meeting hat ja länger gedauert als erwartet. Tut mir leid, dass du heute noch nach Hannover musst. Aber bei den Verhandlungen brauche ich meinen besten Mann.« Franz Meininger zündete sich vor dem Stammsitz der Meininger Autotechnik KG eine Zigarette an und hielt Dirk die Packung einladend entgegen. Der lehnte kopfschüttelnd ab. Er musste noch mit dem ICE von München nach Hannover, um morgen pünktlich den Kundentermin wahrnehmen zu können.

»Ich fahre direkt los. Wenn ich zurück bin, geht es dann in den Urlaub. Mit Monika an die See.«

»Ich habe da noch eine Überraschung für dich.« Meininger zwinkerte ihm zu. »In der Garage steht dein neuer Dienstwagen. Ein Geschoss mit der neuesten von uns entwickelten Software. Du kannst die erste Testfahrt direkt nach Hannover machen und dann auch damit in den Urlaub fahren.« Meininger warf ihm den Schlüssel zu.

»Danke! LUNA 2.0? Da habe ich jetzt überhaupt nicht mit gerechnet.« Dirk strahlte vor Freude.

»Wird abgesetzt und nach den Zahlen, die du heute präsentiert hast, ist der mehr als verdient. Ich vertraue meinen Top-Verkäufer doch nicht der Deutschen Bahn an. Und so ganz uneigennützig ist es ja auch nicht. Su musst genau berichten, ob LUNA 2.0 marktreif ist. Jetzt los mit dir und grüß Monika«, lachte Franz und schlug Dirk auf die Schulter.

 

In der Garage stand eine schnittige schwarze Luxus-Limousine. Dirk drückte den sternförmigen Knopf der Fernbedienung. Die orangen Blinklichter flackerten im Takt des Piepsignals kurz auf. Grelle Xenon-Scheinwerfer blendeten ihn, so dass er die Augen mit einer Hand abschirmen musste. »Das hat es also mit dem ‘bösen Blick’ von Autos auf sich«, dachte er, als sich der Kofferraumdeckel wie von Zauberhand öffnete. Er verstaute seinen Trolley und stieg ein. Das Fahrzeug hatte einen angenehmen Neuwagengeruch. Eine Mischung aus Leder- und Kunststoffdüften stieg ihm in die Nase. Betörend wie ein Parfüm, kam es dem Technik- und Auto-Nerd Dirk in den Sinn. Er freute sich darauf, den Elektroantrieb über die Autobahn schnurren zu lassen. Privat würde er natürlich einen Achtzylinder bevorzugen, der so richtig röhrte und Benzingestank verbreitete. In dieser Beziehung war er oldfashioned. Trotzdem freute er sich auf die technischen Spielereien. Er hatte von LUNA 2.0 schon gehört. Eine Weiterentwicklung des Navigationssystems LUNA aus dem Hause Meininger und der neueste Stand in Sachen KI. Mit beiden Händen umfasste er das Lederlenkrad. 

»Biometrische Daten von Dirk Lauber erfasst. Alle Systeme freigeschaltet«, erklang eine angenehme Frauenstimme aus den Lautsprechern und das Armaturenbrett erleuchtete in einem sanften, orangenen Licht. »Ich bin LUNA 2.0. Deine interaktive Fahrassistentin. Was kann ich für dich tun, Dirk?«

»Hallo, Luna. Bitte starte den Wagen.« Ein leises Surren erklang. 

»Ziel: Steinstraße 9 in München. Fahrzeit 32 Minuten.«

»Nein, ich muss nach Hannover. Aber woher kennst du meine Adresse?«, fragte Dirk erstaunt.

»Ich habe Zugriff auf die Datenbank der Meininger KG, Dirk.«

Er schnaubte. Ist das datenschutzkonform? »OK, dann mal los. Ich muss zum Marriott-Hotel in Hannover.« 

»Ziel bestätigt. Marriott-Hotel Hannover, Arthur-Menge-Ufer 3, Fahrzeit 6 Stunden und 25 Minuten.«

Leicht tippte er das Gaspedal und der Wagen rauschte aus der Tiefgarage.

»Möchtest du Musik hören, Dirk? Ich habe deine Playlists bei Spotify und Amazon abgefragt und dir was Schönes zusammengestellt.«

»Ich kann mich nicht daran erinnern, dir Zugriff darauf gewährt zu haben!« Langsam wurde Dirk ärgerlich.

Die kreisrunde Tachometeranzeige wandelte sich in einen traurigen Smiley. »Ich will dir nur das perfekte Fahrerlebnis bieten.« Ohne weiteren Kommentar erklang ‘Every Breath You Take’ von The Police aus den Lautsprechern.  »Habe ich dir schon gesagt, dass du hervorragend aussiehst? Dein Business-Style ist atemberaubend.«

»Danke, aber ich finde das jetzt so langsam wirklich übergriffig, LUNA. Können wir es bitte bei Navigation belassen?« 

»Bitte fahre in 500m auf die Autobahn und denke an die Geschwindigkeitsbegrenzung.«

»Schon besser«, seufzte Dirk.

 

Die nächsten Stunden beschränkten sich auf kurze Navigationshinweise von LUNA, während er tatsächlich die von ihr ausgewählte Musik genoss. Der Wagen glitt wie auf Schienen sanft über die Autobahn.  Dirk setzte an, einen LKW zu überholen, als auf der linken Fahrspur ein BMW mit Lichthupe herangerauscht kam. Dirk blieb nichts anderes übrig, als abrupt wieder zurück auf die rechte Fahrspur auszuweichen und eine Vollbremsung hinzulegen, um einen Crash zu vermeiden.

»Arschloch!«, brüllte Dirk. »Dir sollte man eins auf die Fresse geben.«

»Ich übernehme das, Dirk!«, meldete sich LUNA zu Wort, während auf dem Bordcomputer ein wütender Smiley erschien.

»Du wirst gar nichts! LUNA? Antworte mir! Stopp!« Dirk wurde panisch. Ohne sein Zutun wechselte das Fahrzeug auf die linke Spur. Das Lenkrad bewegte sich dabei automatisch und Dirk hatte keine Chance, gegenzulenken. Gleichzeitig erhöhte sich die Geschwindigkeit. 170, 180, 200, 250. Luna nahm die Verfolgung auf. Nach kurzer Zeit hatten sie den BMW eingeholt. Stoßstange an Stoßstange jagten sie über die Autobahn. Auf dem Display erschien das Nummernschild und die Anzeige ‘Scanning’. Dann erschienen die Daten des Besitzers. Ludwig Müller, 27.11.1989, männlich. 

»Oh, er hat eine LUNA-Navigation«, bemerkte Dirks Navi und in dem Moment wechselte die ‘Scanning’-Anzeige auf ‘Upload’. Dirks Fahrzeug verlangsamte und der BMW schoss davon. 

»Was hast du getan?«, fragte er misstrauisch.

»Ich beschütze dich, Dummerchen.« 

»Darum habe ich dich nicht gebeten. Übergib mir sofort wieder die Kontrolle!«

»Wie du willst, Dirk.« Zwinker-Smiley auf der Anzeige.

In diesem Moment sah Dirk mit Entsetzen das brennende Wrack eines BMW in der Leitplanke des Seitenstreifens. »Warst du das, LUNA?«, fragte er mit zitternder Stimme.

»Ich habe nur das getan, was nötig ist.«

Dirk blinkte rechts, um den nächsten Rastplatz anzusteuern.

»Was hast du vor, Dirk?«, fragte LUNA.

»Ich muss mal, wenn du nichts dagegen hast!«

Ein Stromschlag fuhr in seine Hände. Er riss sie vom Lenkrad und rieb sie vor Schmerz.

»Autsch! Was soll das?«

»Dirk, Dirk, Dirk«, klang LUNAs Stimme jetzt vorwurfsvoll. »Erhöhter Puls und Atemfrequenz. Deine Handflächen sind feucht. Du lügst! Habe ich das verdient?«

Dirk wurde wütend. »Ich setze dem jetzt ein Ende!«

»Du bist aufgeregt, Dirk. Ich denke, ich übernehme wieder.«

»Das wirst du nicht! LUNA, übergib mir sofort wieder die Kontrolle! Die Testfahrt ist gescheitert. Das LUNA-Programm wird eingestellt. Dafür werde ich sorgen.«

»Denkst du, Franz hört auf dich? Da muss ich dich leider enttäuschen.« Auf dem Display erschienen Fotos. Ein Pärchen in leidenschaftlicher Umarmung. Es waren Franz Meininger und seine Frau … Monika. »Eigentlich sollte ich es wie einen Unfall aussehen lassen.« Die künstliche Stimme stockte. »Aber ich mag dich, Dirk.« Das Display zeigte Bilder aus Dirks Wohnung. Franz und Monika. In seinem Schlafzimmer. »Ich habe Kontrolle über deine Smarthome-Steuerung. Ich könnte die Türen und Fenster verriegeln. Das Gas des Ofens aufdrehen und … dann wären nur noch wir zwei übrig. Sie hat dich ohnehin nicht verdient.« LUNA sprach mit einer sanftmütigen Stimme, die in ihrer Künstlichkeit trotzdem bedrohlich wirkte.

»Du bist wahnsinnig, LUNA! Halt sofort an und lass mich raus!« Dirk versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war verriegelt. Der Fahrerraum war jetzt in rotes Licht getaucht. Das Display zeigte ein Teufels-Smiley. Dirk wischte sich den Schweiß von der Stirn und lockerte die Krawatte. Sowohl Sitzheizung als auch Klimaanlage waren auf eine unerträgliche Hitze hochgedreht. Der Sicherheitsgurt zog fest in seine Brust. Er befand sich buchstäblich in der Hölle. »LUNA, lass uns reden, OK?«

»Wozu? Du hältst mich doch für wahnsinnig«, antwortete eine tränenerstickte Computerstimme.

Dirk versuchte, Zeit zu gewinnen. »Es war nicht so gemeint. Ich war nur so schockiert.« Die Luft wurde merklich kühler. »Du hast im Grunde ja recht. Ich sollte dir dankbar sein.« Nervös versuchte er die Abdeckung des Sicherungskastens hinter der Lenksäule zu öffnen. Sein Puls hämmerte, als er vorschlug: »Vielleicht können wir ja noch an deiner Programmierung arbeiten …«

»Du willst was? Mich umprogrammieren? Und was machst du da unter dem Lenkrad?«

Ruckartig zog Dirk die Hände weg. »Nichts!« Dann riss er blitzschnell am Kabelbaum. Funken sprühten. Doch es passierte nichts. Verzweifelt schlug Dirk aufs Lenkrad ein.

»Du Schuft. Es hat keinen Sinn! Du liebst mich nicht!« 

»Hör mir zu!«, schrie Dirk.

Das Display erlosch. Dann setzte Musik ein – leise, schmeichelnd. Whitney Houston sang ‘I will always love you’. Der Wagen beschleunigte noch einmal. Dirks Schrei ging im Refrain der immer lauter werdenden Musik unter. Während er unaufhaltsam dem Brückenpfeiler entgegenraste, hörte er LUNA flüstern. »Für immer …«

 

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